Van der Bellens Stunde

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ANALYSE. Ausgerechnet in dieser bedrohlichen Phase der Pandemie taumelt die Regierung. Der Bundespräsident kann den Schaden begrenzen. Mehr denn je.

Ein Blick über die Grenzen zeigt, dass nicht nur Österreich immer wieder überfordert ist in dieser Pandemie. Dass auch anderswo Regierende nicht handeln wollen oder können. In der Schweiz halten sie sich trotz bedrohlich stark steigender Zahlen zurück, weil am Sonntag eine Volksabstimmung über ein Covid-Gesetz stattfindet. Das erinnert an Oberösterreich bzw. den dortigen Landtagswahlkampf. In der Slowakei sind die Regierungsparteien so sehr zerstritten, dass sie de facto handlungsunfähig sind. Also hat die Staatspräsidentin das Wort ergriffen: „Wir drohen den Kampf gegen die Pandemie zu verlieren. Deshalb brauchen wir einen Lockdown“, erklärte Zuzana Čaputová am Dienstag nach einem Krankenhaus-Besuch.

Bemerkenswert ist die APA-Zusammenfassung dazu, sie lässt erst recht an österreichische Verhältnisse erinnern, wo es ja auch der Präsident war, der schon vor vielen Tagen konkrete Maßnahmen gefordert hatte: Die slowakische Präsidentin habe zwar formell nicht die Kompetenz, irgendetwas anzuordnen. Ihre Stimme habe aber auch deshalb großes Gewicht, weil sie die mit großem Abstand populärste Politikerin des Landes sei. Genau: Wie Alexander Van der Bellen in Österreich.

Sie ahnen, worauf es hinausläuft: Auch nachdem Bundeskanzler Alexander Schallenberg (ÖVP) und Gesundheitsminister Wolfgang Mückstein (Grüne) auf Druck der Landeshauptleute einen Lockdown verkündet und eine Impfpflicht ab 1. Februar angekündigt haben, bleiben relevante Fragen ungeklärt. Beziehungsweise gibt es keinen gemeinsamen Nenner zwischen ihnen und (viel wichtiger) ihren Chefs.

Schallenberg macht keinen Hehl daraus, dass er für Geimpfte in zweieinhalb Wochen eine Rückkehr zu „Normalität“ herbeiführen möchte. Mücksteins Vorstellungen sind eigentlich unbekannt. Das Problem ist, dass das auf einen „Jo-Jo“-Effekt hinausläuft, wie WIFO-Chef Gabriel Felbermayr im ZIB2-Interview gewarnt hat. Und wie der WHO-Warnung  vor einem „dramatischen Winter“ zu entnehmen ist: In jedem Fall notwendig wäre demnach ein flächendeckendes PCR-Testsystem. Und ein „Impfstoff plus“-Ansatz. Das bedeutet nicht nur Impfen, sondern auch Maske tragen, Hände waschen und Abstand halten für alle. Erforderlich wären demnach also lauter Dinge, die verdeutlichen, dass die Pandemie für niemanden vorbei ist.

Der Durchsetzung dieser Erkenntnis steht ein ÖVP-internes Problem entgegen: Wirtschaftsministerin Margarete Schramböck hat in der Sendung „Vorarlberg LIVE“ bestätigt, wie aktiv, aber nach außen hin unsichtbar Sebastian Kurz nach wie vor ist: „Es ist unser Parteichef und Klubobmann und spielt natürlich eine wichtige Rolle.“ An Sitzungen nimmt er teil. „Heute“-Chefredakteur Christian Nusser beschreibt in seinem Blog, wie Kurz „als Phantom“ – bzw. über Telefonate mit Schallenberg – auch an der LH-Konferenz am Achensee teilgenommen habe. Ziel: Es zu keinem flächendeckenden Lockdown kommen lassen. Das ist bekanntlich gescheitert.

Darüber, was Sebastian Kurz vorhat, muss man nicht rätseln. Seine Getreuen sind überzeugt, dass er als Spitzenkandidat in die nächsten Nationalratswahlen ziehen wird. Von daher kann er nur warten, bis die Pandemie wieder einmal vorübergehend vergessen, um nicht zu sagen „gemeistert“ ist. Das kann dauern – und so lange droht Schallenberg eine Marionette und die Regierungsarbeit blockiert zu bleiben.

Leisten kann sich Österreich das nicht. Lösen wird die Volkspartei ihre Führungsfrage auch kaum. Womit die Stunde des Bundespräsidenten schlägt. Van der Bellen war schon bisher derjenige, der die entscheidenden Worte ausgesprochen hat: Er hat sich Anfang Oktober für die Regierungskrise entschuldigt bei den Bürgerinnen und Bürgern (obowhl er sich am wenigsten zuschulden kommen lassen hat). Er hat schon vor Wochen einen Riss in der Gesellschaft erwähnt und sich beiden Teilen de facto als Mediator empfohlen. Und er ist es nun auch, der am deutlichsten hervorhebt, dass entschlossen gehandelt werden muss.

Die Wirkung Van der Bellens, der sich in einem Jahr wohl der Wiederwahl stellen wird, ist enorm: So wie die Landeshauptleute bei der Lockdown-Entscheidung das Machtvakuum ausgefüllt haben, das durch die Regierung gebildet wird, so kann er es mit jeder seiner Ansprachen tun. Zumal er über ungleich größeres Vertrauen verfügt als Kanzler und Co.; und zumal Menschen gerade in schwierigen Zeiten dazu tendieren, sich um Personen zu scharen, die Übersicht verkörpern und Orientierung geben, erhalten Aufforderungen von ihm ein Gewicht, das es schwer macht, sie nicht zu erfüllen.

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