Tanner muss Geschichte lernen

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BERICHT. EU-Beistandsklausel: Verteidigungsministerin offenbart in Bezug auf Artikel 42 Absatz 7 Lücken.

In der Neutralitätsdebatte sind österreichische Regierungsmitglieder auf dünnem Eis unterwegs. Europaministerin Karoline Edtstadler(ÖVP) will nicht an der Neutralität rütteln, weil diese weiterhin identitätsstiftend sein soll. Verteidigungsministerin Klaudia Tanner (ÖVP) nennt in einem Interview mit der „Kleinen Zeitung“ das Argument, dass „man nicht gegen das Volk regieren“ möchte.

Bei alledem geht etwas unter. Der ehemalige Sondergesandte der OSZE für die Ukraine, der Österreicher Martin Sajdik, hat im Ö1-Journal zu Gast auf einen Konflikt hingewiesen, der sich mit der Neutralität ergeben könnte im Fall eines Angriffs auf ein EU-Mitgliedsland, etwa Polen. Für einen solchen Fall gibt es im EU-Vertrag Artikel 42 Absatz 7: „Im Falle eines bewaffneten Angriffs auf das Hoheitsgebiet eines Mitgliedstaats schulden die anderen Mitgliedstaaten ihm alle in ihrer Macht stehende Hilfe und Unterstützung, im Einklang mit Artikel 51 der Charta der Vereinten Nationen.“ Dieser Absatz enthält zwar noch den Satz, dass dies „den besonderen Charakter der Sicherheits- und Verteidigungspolitik bestimmter Mitgliedstaaten unberührt“ lasse, laut Sajdik ist es aber schwer vorstellbar, dass man bei einem Angriff auf Polen sagt: „Sorry, wir sind neutral.“

In der „Kleinen Zeitung“ wurde Tanner auf diesen Artikel angesprochen. Im zweiten Teil der Antwort meinte sie, dass man die Lage dann beurteilen würde: „Es macht einen Unterschied, welcher Staat angegriffen wird.“ Im ersten Teil erklärte sie: „Das ist eine Bringschuld, die man der Bevölkerung beim EU-Beitritt vielleicht nicht ausreichend erklärt hat.“

Das ist seltsam: Beim EU-Beitritt 1995 bzw. der vorhergehenden Volksabstimmung hat man noch gar nicht wissen können, worauf man sich da einlässt. Damals existierte weder diese noch eine vergleichbare andere Beistandsklausel. Artikel 42 Absatz 7 kam erst mit dem Vertrag von Lissabon 2007, der im Dezember 2009 in Kraft trat. Damit erhielt die Union erstmals den Charakter eines Defensivbündnisses.

Natürlich: Da hätte man die Sache dem Volk, gegen das man ja nicht regieren möchte, wirklich erklären müssen. Man hat es nicht getan. Zum einen ist man davon ausgegangen, dass eine solche Verpflichtung ohnehin mit Sicherheit nie schlagend wird. Und zum anderen hat man sich die Arbeit nicht antun wollen, zu erklären, wie dies mit der Neutralität vereinbar sein könnte.

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