ANALYSE. Regierung: Grüne müssen viel Kritik einstecken an der Seite der ÖVP. Schaut man genauer hin, sieht man jedoch, dass sie nicht nichts bewirken. Im Gegenteil.
Grüne müssen – auch auf diesem Blog – viel Kritik einstecken. An der Seite der ungleich größeren ÖVP bzw. des Ein-Personen-Bündnisses von Sebastian Kurz ist es nicht einfach, Akzente zu setzen. Zumal sie sich zu Beginn der Zusammenarbeit mit eher vagen Zugeständnissen auf der inhaltlichen Ebene zufrieden gaben und türkis von der Europa- bis zur Flüchtlingspolitik gewähren ließen, als wäre noch immer die FPÖ an Bord.
Womit wir bei einem entscheidenden Punkt angelangt wären: Es ist nicht so, dass es keinen Unterschied zwischen Türkis-Blau und Türkis-Grün gibt. Gerade in der Coronakrise wird das deutlich. Gesundheitsminister Rudolf Anschober (Grüne) hat ein paar furchtbare Fehler zu verantworten. Ob’s unter Beate Hartinger-Klein noch mehr gegeben hätte? Darüber zu spekulieren ist müßig. Zwei, drei andere Dinge machen einen Vergleich viel eher möglich:
Anschober demonstriert zumindest Verantwortungsbewusstsein und Kritikfähigkeit. Das unterscheidet ihn von freiheitlichen Politikern, die zwar jahrelang engste Mitstreiter von Heinz-Christian Strache waren, seit Ibiza aber so tun, als hätten sie nie von ihm gehört. Anschober unterscheidet das im Übrigen auch von ÖVP-Politikern bis hinauf zu Sebastian Kurz: Sie machen alles richtig (Copyright: Tirols Gesundheitslandesrat Bernhard Tilg, ÖVP). Oder hat der Kanzler schon einmal eingestanden, dass man das eine oder andere nicht doch hätte besser machen können? „Kritisieren Sie mich“, forderte der Gesundheitsminister dieser Woche auf einer Pressekonferenz: Kritik sei essenziell für die Demokratie, von konstruktiver Kritik könne man lernen. Das kommt der Aussage nahe, die von der deutschen Bundeskanzler Angela Merkel (CDU) stammt: Die Pandemie sei eine demokratische Zumutung, Kritik und Widerspruch dürften nicht nur erlaubt werden, sie müssten wechselseitig eingefordert und auch angehört werden.
„Die Presse“ berichtet nach dem ersten Ministerrat nach der Sommerpause von einem türkis-grünen Zerwürfnis. Kurz wäre demnach aufgrund höherer Infektionszahlen gleich zu neuen Beschränkungen geschritten. Anschober habe durchgesetzt, dass es bei Appellen geblieben ist. Man wird sehen, wie’s ausgeht. Ein Unterschied wird damit aber immer sichtbarer: Wie Freiheitliche, die mittlerweile ins Gegenteil gekippt sind, tendierte Kurz zu Beginn der Pandemie zu echten Ausgangsbeschränkungen, wie es sie etwa in Italien oder Spanien gegeben hat. Dass doch ein paar Ausnahmen („eine Runde laufen“ etc.) kamen, ist den Grünen zuzuschreiben.
Gerade die nächsten Monate könnten aufgrund dieser unterschiedlichen Zugänge noch sehr konfliktträchtig werden: Kommt’s letzten Endes doch zu einer verpflichtenden Corona-App? „Jeder wird eine App haben“, sagte Kanzlerberaterin Antonella Mei-Pochtler Anfang Mai in einem Interview. Der türkisen Linie könnte es entsprechen; der grünen weniger.
Ein Unterschied zwischen Türkis-Grün und Türkis-Blau wird auch daraus ersichtlich: FPÖ-Wien-Spitzenkandidat Dominik Nepp mag nicht wirklich ernst genommen werden; wenn, dann wird er nach der Gemeinderatswahl im Oktober nur noch Chef einer Kleinpartei sein. Im ZIB2-Interview zu Beginn der Woche hat er jedoch ein paar freiheitliche Sichtweisen zum Besten gegeben: Sozialleistungen wie die Mindestsicherung würden nicht-österreichischen Staatsbürgern gestrichen werden. Über 100.000 Menschen würden damit schlagartig vor dem Nichts stehen, Konflikte erst recht befeuert werden. Klar, es wäre EU-rechtswidrig, wie Armin Wolf anmerkte. Was Nepp jedoch wenig bekümmerte: „Es wird viele, viele andere Länder geben, die genauso denken, dass es, wenn es zu einer Notsituation kommt, wenn es zu einer wirtschaftlichen Verknappung von Ressourcen kommt, dass man hier wieder den Staatsbürger bevorzugt.“ Da könnte in der Tat etwas aufziehen, das sollte man sehr aufmerksam verfolgen.
Als Sozialminister hat Anschober zuletzt einen Aktionsplan gegen Armut angekündigt, wobei nicht anzunehmen ist, dass er dabei nach Staatsbürgerschaft der Betroffenen vorgehen möchte; es würde seinen bisherigen Zugängen widersprechen. Es ist jedenfalls ein ganz anderer Akzent als der Freiheitliche – und es ist einer, der derzeit in der Regierung vertreten ist.
Wobei es noch sehr spannend werden wird, wie sich die ÖVP-Haltung dazu entwickelt. Immerhin basiert der Wahlerfolg des Sebastian Kurz zu einem guten Teil auf der Zustimmung ehemaliger FPÖ-Wähler: Sie wird der 34-Jährige bei Laune halten wollen. Und Grüne als Koalitionspartner werden es unter Umständen nur weniger einfach machen als es Freiheitliche tun würden. Man wird sehen.
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