ANALYSE. Unter Druck geraten, freuen sich Kurz und Co. über die willkommene Gelegenheit für ein wirkungsvolles Ablenkungsmanöver.
Wer, sagen wir, vor dem Wochenende die Erde verlassen hat und danach wieder zurückgekehrt ist, könnte in Anbetracht der innenpolitischen Nachrichtenlage glauben, sich am Planeten geirrt zu haben: Plötzlich ist die Aufmerksamkeit auf die halbe ÖVP-Regierungsriege gelenkt, die wieder einmal Entschlossenheit gegenüber der Türkei demonstriert. Schon am Sonntag hatte Kanzler Sebastian Kurz (ÖVP) in einer Stellungnahme über die Medien wissen lassen, dass man in Österreich und besonders in Wien „keine Bilder von Gewalt auf den Straßen wie aus anderen Ländern“ wolle. Vorausgegangen waren dem Angriffe türkischer Nationalisten und Rechtsextremer auf Kundgebungen in Wien-Favoriten. Am Montag traten ÖVP-Innenminister Karl Nehammer und ÖVP-Integrationsministerin Susanne Raab (ÖVP) vor die Presse, um sich gegen „jeglichen Einfluss aus der Türkei“ zu stellen. ÖVP-Außenminister Alexander Schallenberg lud zudem den türkischen Botschafter zum ernsten Gespräch.
Darüber ließe sich jetzt sehr viel schreiben. Etwa, dass Kurz und Co. hier eine Deutlichkeit an den Tag legen, die sie gegenüber US-Präsident Donald Trump und dessen Umgang mit der Pandemie und mehr noch mit Rassismus nicht einmal ansatzweise zeigen. Klar, Kurz würde möglichst bald gerne wieder einmal von Trump empfangen werden. Und so wenig Kritik an diesem in einer rechten Wählerschaft ankommt, so sehr tut es die Konfrontation mit der Türkei; das ist jahrelange Übung.
Und vor allem kommt das zum bestmöglichen Zeitpunkt: Es hilft, ein bisschen Wien-Wahlkampf zu machen, vor allem aber vergessen zu machen, worüber ernsthafte Debatten nötig wären. Womit wird zu den Ereignissen der vergangenen Woche zurückkehren würden:
Im Ibiza-U-Ausschuss haben Kurz und Finanzminister Gernot Blümel (ÖVP) ihre Geringschätzung für das Parlament kundgetan. Kurz gestand, dass ihm nicht einmal die wenigen Abgeordneten bekannt sind; er hatte eine bunte Liste mit Namen und Fotos dabei. Wenn man bedenkt, wie klein die österreichische Politszene ist, und dass der Nationalrat nun einmal die Volksvertretung ist, dann sagt das schon einiges aus. Blümel wiederum wollte sich nicht erinnern können, ob er 2018/2019 mit einem Laptop oder nur dem Smartphone gearbeitet hat. Das glaubt er natürlich selbst nicht. Und das konnte er, der schon einmal ohne Schuhe bzw. nur in türkisen Socken durchs Plenum des Hohen Hauses spazierte, natürlich nur jemandem sagen, den er nicht für voll nimmt.
Zusammengefasst stellten sich beide ÖVP-Regierungsmitglieder im U-Ausschuss unwissend, um es vorsichtig zu formulieren – und konnten dabei zu ihrem Glück auch auf einen Vorsitzenden setzen, der ein eigenes Kapitel wäre: Nationalratspräsident Wolfgang Sobotka ist bekanntlich Präsident eines Vereins, der für ein Heft Inserate von jenem Glücksspielkonzern erhielt, der Thema im Ausschuss ist (Novomatic). Sprich: Er ist befangen. Und er übt seine Befangenheit als Vorsitzender so sehr als, dass es Oppositionsvertreter zur Weißglut treibt.
Debatte darüber? Fehlanzeige. Wirkungsvoll hat die ÖVP die emotionale, absolut deplatzierte „Oasch“-Aussage der Neos-Abgeordneten Stephanie Krisper sowie den Rücktritt von Ex-OGH-Vizepräsident Ilseo Huber als U-Ausschuss-Verfahrensrichterin am Freitag so verstärkt, dass alles andere fast schon vergessen war.
Zu allem Anderen gehört ÖVP-Verteidigungsministerin Klaudia Tanner, die ohne Vorabinfo für den Oberbefehlshaber, Bundespräsident Alexander Van der Bellen, vorübergehend die Verteidigung Österreichs aufgeben ließ und schließlich zu verstehen gab, dass ihr nicht einmal der Unterschied zwischen einer Kaserne und einer Garnison bekannt ist. Zuerst wollte sie da, dann dort Schließungen vornehmen – oder auch nicht. Mit einem Satz: Die Ministerin entpuppte sich als Sicherheitsrisiko.
Aber, wie gesagt, die ÖVP checkt das schon: Sie hat Themen, wie eben die Türkei, zu dem dankenswerterweise ein Anlass (Angriffe auf Kurden-Demos) kam; und über das sich ruck-zuck und mit boulevardmedialer Verstärkung alles andere vergessen machen lässt. Was auch Ausdruck einer gewissen Überlegenheit bzw. Ohnmacht der politischen Mitbewerber ist.
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