Der bessere Kanzler

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ANALYSE. Durch Van der Bellen wird eine Lücke in der österreichischen Politik deutlich: Gerade jetzt, wo es darauf ankommen würde, fehlt eine große integrative Kraft.

So bestimmend das Thema Asyl bei Landtagswahlen im Herbst 2015 war, so bestimmend ist zuletzt sowohl in Tirol als auch in Niederösterreich das Thema Teuerung gewesen. Das zeigen Wahltagsbefragungen, die das Sozialforschungsinstitut SORA jeweils durchgeführt hat. Politik wird dieser Veränderung jedoch nicht gerecht. Mit einer Ausnahme. FPÖ-Chef Herbert Kickl arbeitet und punktet nicht nur damit, dass er eine „Festung Österreich“ fordert, sondern auch damit, dass er den Leuten einredet, von der Regierung hängen gelassen zu werden und dass das ganze Inflationsproblem durch eine Aufhebung der Sanktionen gegen Russland aus der Welt geschafft werden könnte.

Korrektur: Es gibt eine zweite Ausnahme, nämlich Bundespräsident Alexander Van der Bellen. Praktisch kann er es natürlich nicht sein, er wirkt aber wie der bessere Kanzler. Es wäre zu einfach, das darauf zurückzuführen, dass er kraft seines Amtes quasi auf einer Metaebene unterwegs sein kann und es dadurch nicht so schwer hat wie Karl Nehammer (ÖVP).

Das Problem von Nehammer ist, dass er nicht wegkommt von seinem Vorgänger Sebastian Kurz, dass er sich durch dessen Message-Controller Gerald Fleischmann beraten lässt, nicht einmal gegenüber Erdbebenopfern in Syrien und der Türkei eine Aufnahmebereitschaft signalisieren kann und so tun „muss“, als wäre noch immer Asyl das mit Abstand größte Problem. Dass er – über sein Kabinett – zwar für milliardenschwere Teuerungsausgleichsmaßnahmen sorgt, aber auf wesentliche Ausführungen dazu vergisst, sodass nur ein Bruchteil spürbar (!) ankommt bei den Leuten.

Und dass er nicht darauf reagiert, dass die Gesellschaft mehr und mehr auseinanderdriftet: Meinten vor sechs Jahren noch 70 Prozent der Österreicher, dass alle die gleichen Chancen haben, taten es zuletzt nur noch 57 Prozent (vgl. Bericht dazu). Kickl sagt danke.

Alternative? Der Bundespräsident nützt ziemlich viele Reden, von jener zur Eröffnung der Bregenzer Festspiele im vergangenen Sommer bis zu jüngsten Neujahrsansprache vor dem Diplomatischen Corps in der Hofburg, um Bewusstseinsbildung zu betreiben.

Erstens dafür, dass Neutralität und Verurteilung des russischen Angriffskriegs in der Ukraine kein Widerspruch sind. Zweitens, dass der Angriff letzten Endes gegen ganz Europa, Freiheit und Demokratie gerichtet ist. Drittens, dass die Sanktionen, die die Teuerung aufgrund der russischen Antworten darauf befeuern, vor diesem Hintergrund notwendig sind. Und viertens, dass es jetzt auf Zusammenhalt ankomme: „Das Zusammenhalten in unserer Gesellschaft, das Eintreten füreinander, die Verbundenheit und die Bereitschaft, die gemeinsamen Werte und Ziele auch in diesen schwierigen Stunden zu vertreten. Darum geht es. (…) Wir werden all das, was jetzt passiert und passieren wird, nur bewältigen, wenn wir zusammenhalten“, so Van der Bellen in Bregenz.

Leichter gesagt als getan? Es überrascht, dass Nehammer gerade als Vertreter einer Partei, die in der Vergangenheit immer wieder gerne einen „nationalen Schulterschluss“ eingefordert hat, jetzt darauf vergisst. Warum? Weil primäres Ziel solcher Appelle meist war, andere in Geiselhaft für die eigene Sache zu nehmen oder sie als Nestbeschmutzer darzustellen

Jetzt würde der Appell zum Zusammenhalt möglicherweise der Ausgrenzung von Kickl gleichkommen, der Spaltung will, wäre jedoch nötig und würde letzten Endes auch Nehammer etwas bringen: Es würde darum gehen, einer Masse an Bürgerinnen und Bürgern zu vermitteln, dass sie Teil einer starken Gesellschaft sind, in der alles getan wird, damit niemand untergeht. Und in der es daher eine Perspektive gibt.

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