Wo sich Kurz verschätzt hat

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ANALYSE. Die „Ibiza-Affäre“ hat die Freiheitlichen (noch) nicht erledigt. Im Gegenteil. Umso mehr aber kann der ÖVP-Chef auf die SPÖ setzen.

Man kann es nicht oft genug sagen: 2019 ist nicht 2002. Die Freiheitlichen stehen in ihrer Krise, ausgelöst durch die „Ibiza-Affäre“, ganz anders da als vor 17 Jahren, als sie sich selbst in die Luft gesprengt hatten und de facto führungslos waren (weil ihr Überchef Jörg Haider weder weg noch da war). Ja, man muss gerade nach dieser EU-Wahl damit rechnen, dass sie sich zumindest als Mittelpartei halten könnten.

Ob Bundeskanzler und ÖVP-Chef Sebastian Kurz das auf seiner Rechnung hatte, als er an jenem Samstagabend vor eineinhalb Wochen die Koalition aufkündigte und eine Wahlkampfrede mit dem Appell hielt, seine Partei zu stärken? Und zwar so, als würde er eine absolute Mehrheit anpeilen? Sehr wahrscheinlich nicht: Kurz hat 2016 eine strategische Richtungsentscheidung vorgenommen und angefangen, sich voll auf Mitte-Rechts-Wähler zu konzentrieren. Warum? Weil sie eine Mehrheit repräsentieren. Sein Hauptmitbewerber (um nicht zu sagen: Gegner) ist seither die FPÖ. Zurecht hat sie denn auch schon im Nationalratswahlkampf 2017 darauf hingewiesen, dass er Inhalte von ihr kopiere (Schließung von Flüchtlingsrouten, „Stopp der Zuwanderung ins Sozialsystem“ etc.).

Wie auch immer: Schon bei der Nationalratswahl 2017 wäre für Kurz ein noch besseres Ergebnis erwartbar gewesen. Die Freiheitlichen haben dann allerdings mit 26 Prozent überrascht. Jetzt hat es ganz nach einer Gelegenheit für Kurz ausgesehen, auf ihre Kosten in Richtung 40 Prozent oder noch mehr abheben zu können.

Doch daran müssen zunehmend Zweifel aufkommen: Stand heute ist feststellbar, dass sich die FPÖ überraschend gut hält. Bei der EU-Wahl hat sie mehr denn je EU-Gegner angesprochen (81 Prozent). Ausgerechnet Heinz-Christian Strache hat genügend Vorzugsstimmen für ein Mandat im Europäischen Parlament gewonnen. Norbert Hofer und Herbert Kickl, das neue Führungsduo, konnten in der Debatte über das Misstrauensvotum schlüssiger gegen das Kabinett Kurz argumentieren als Sozialdemokraten: „Er hat uns das Vertrauen entsagt, indem er uns aus der Regierung geworfen hat, also kann niemand erwarten, dass wir ihm weiterhin vertrauen. Oder etwas schon? Eben.“

2019 ist nicht 2002 – und das kann Kurz in einem ganz anderen Zusammenhang auch wieder hoffen lassen: Von der FPÖ wird er möglicherweise nicht so viele Stimmen holen wie erwartet, dafür aber kann er damit rechnen, dass die SPÖ als ernstzunehmende Mitbewerberin um das Kanzleramt ausfällt.

Vor 17 Jahren haben auch die Sozialdemokraten vom Scheitern von Schwarz-Blau I profitiert. Bei der damaligen Nationalratswahl legten sie um immerhin dreieinhalb Prozentpunkte auf 36,5 Prozent zu. Davon sind sie heute weiter entfernt als Kurz von den 42,3 Prozent, die Wolfgang Schüssel seinerzeit für die ÖVP erreicht hat. Ja, bei der dieser EU-Wahl hat die SPÖ gegenüber der Nationalratswahl 2017 mit knapp 100.000 Stimmen um ein Vielfaches mehr an die ÖVP verloren als sie von dieser gewonnen hat (5000). Sprich: Unfreiwillig, aber doch hat sie Kurz gestärkt.

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