ANALYSE. Der Bundespräsident hat einen Weckruf für ÖVP und SPÖ geliefert und ihnen längst vorgemacht, wie man eine politische Mehrheit auch gewinnen kann.
Im tagespolitischen Kleinklein erscheinen die Äußerungen von Bundespräsident Alexander Van der Bellen anlässlich seiner Angelobung für eine zweite Amtszeit geradezu fahrlässig: Kurz vor der niederösterreichischen Landtagswahl ließ er in einem ORF-Interview wissen, Herbert Kickl nicht automatisch einen Regierungsbildungsauftrag zu erteilen, sollte er bei der nächsten Nationalratswahl mit der FPÖ auf Platz eins landen.
Das kann man als Wahlkampfhilfe für die Freiheitlichen darstellen. Auch wenn es schwierig ist, den Nachweis zu erbringen, dass es ihnen bei dieser Landtagswahl etwas gebracht hat: Das Ergebnis entspricht ziemlich genau Umfragen, die in den vergangenen Wochen veröffentlicht worden sind. Demnach hätten die Freiheitlichen eher sogar noch besser abschneiden und nicht 24, sondern bis zu 26 Prozent erreichen können.
Im Übrigen sollte man präzise sein: Van der Bellen hat nicht etwa gesagt, dass er Freiheitliche im Allgemeinen und Kickl im Besonderen einfach ablehnt, sich ihnen also willkürlich in den Weg stellt, wie sie das nun so gerne darstellen. Er hat recht präzise dargelegt, worum es ihm inhaltlich geht. Und das sollte man auch als Weckruf für die übrigen Parteien betrachten: Es kommt nicht zuletzt darauf an, dass sie einen ordentlichen Job machen und sich um andere Mehrheiten bemühen.
Weil schon von Niederösterreich die Rede war, könnte man bei der dortigen ÖVP von Johanna Mikl-Leitner anfangen: „Liberale Demokratie gibt es nicht ohne korrekte Information“, lieferte Van der Bellen in seiner Rede vor der Bundesversammlung eine medienpolitische Ansage. Das war auch eine Rüge für eine blau-gelbe Volkspartei, die ihre langjährige Machtstellung im Land dazu missbrauchte, Einfluss auf die ORF-Berichterstattung zu nehmen – den Bürgern des Landes also nicht korrekte Information zuzumuten.
Für das Staatsoberhaupt sind Grund- und Freiheitsrechte, Menschenrechte sowie Minderheitenrechte ebenso unantastbar, wie die Mitgliedschaft bei der Europäischen Union und die Richtigkeit der Sanktionen gegen Russland außer Frage stehen. Diesbezüglich gibt es nicht nur bei der FPÖ Klärungsbedarf. Zur Erinnerung: ÖVP-Klubobmann August Wöginger hat erst im Herbst flapsig gefordert, die Europäische Menschenrechtskonvention zu ändern.
Und die österreichische Sanktionspolitik wirkt überhaupt verschämt: Hier unterlassen zu viele Parteien Bemühungen, einer Masse klarzumachen, worum es geht; nämlich um ein Zeichen gegen einen Angriff, der letztlich ganz Europa trifft. Diese Lücke ermöglicht es Freiheitlichen erst, mit ihrem Ruf nach einer Aufhebung der Sanktionen so massiv zu punkten.
„Unser oberstes Ziel muss es werden, dass unsere Jugend wieder an eine gute Zukunft glaubt“, sagt Van der Bellen. Diesbezüglich gibt es viel zu tun. Etwa auch für die Sozialdemokratie: Wenn sie einen Plan für morgen vorlegen würde, hätten vielleicht weniger Menschen Angst und würden daher nicht die FPÖ, sondern sie wählen.
Wenn man es so sieht, kann man dem Bundespräsidenten dankbar sein. Er spricht Dinge an, auf die es ankommt. Und nebenbei stärkt er nicht Kickl, wie vielfach behauptet wird, sondern seine Mitbewerber: Er hat einen Prinzipienkatalog vorgelegt, dem zu entnehmen ist, warum der FPÖ-Chef eine demokratische Zumutung ist. Damit macht er es ihnen leichter, zur Bedingung für allfällige Koalitionsverhandlungen zu machen, dass Kickl nicht Kanzler werden darf. Das könnte zum Beispiel gerade auch einer ÖVP gefallen, die bei der nächsten Nationalratswahl stark verlieren und daher grundsätzlich in einer Position der Schwäche sein könnte.
Van der Bellen hilft noch mehr: Bei den Präsidentschaftswahlen 2016 und 2022 hat er gezeigt, wie man in Österreich auch zu einer Mehrheit kommen kann. Nicht nur mit billigem Rechtspopulismus. Unter anderem hat er Heimatliebe neu definiert. Etwas, was Teile seiner Anhängerschaft befremdet, vielleicht aber ein notwendiger Schritt war: Wer gewinnen will, muss auch in ländlichen Gebieten und bürgerlichen Kreisen, wo derlei gefragt ist, nennenswert punkten.
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