ANALYSE. Die Volkspartei befindet sich im freien Fall. Mit neuen Leuten – wie Schallenberg als Kanzler – ist es nicht getan. Sie müsste sich neu erfinden.
Wenn Fritz Plasser meint, die ÖVP befinde sich in der „schwersten Krise der Parteigeschichte“, dann hat das besonderes Gewicht: Der 73-jährige Politikwissenschaftler hat Ein- und Überblick, was diese Geschichte anbelangt. Gesagt hat Plasser das in der ORF-Sendung „Im Zentrum“. Geblieben ist von ihr vor allem auch die Aussage von Ex-Neos-Chef und Sebastian Kurz-Kenner Matthias Strolz an Landwirtschaftsministerin Elisabeth Köstinger (ÖVP): „Elli, es ist vorbei.“ Köstinger hofft ja, dass Kurz bald ins Kanzleramt zurückkehren wird. Das hat sie gleich nach seiner Rücktrittserklärung auf Twitter geschrieben.
Genau das ist es aber, was die schwere ÖVP-Krise noch schwerer macht als sie ohnehin schon ist: Die Vorstellung – auch von Kurz selbst -, dass da jetzt nur etwas passiert ist, was man bald wieder gutmachen kann. Das ist wie bei einer kaputten Beziehung, die nicht beendet wird: Es läuft, zumal exakt null Problembewusstsein und daher auch gar keine Bereitschaft vorhanden ist, Konsequenzen zu ziehen, auf ein Schrecken ohne Ende hinaus.
Hoffnungen, dass sich Alexander Schallenberg als Kanzler darüber hinweg- und so auch die ÖVP retten könnte, wirken zum gegenwärtigen Zeitpunkt naiv: Der Mann definiert sich selbst als Partner von Sebastian Kurz, der ja weiterhin Klubobmann und Parteichef ist. So lange kurz das bleibt und Schallenbergs größtes Ziel ist, sich loyal zu verhalten, ist das ein Handicap für ihn. Vor allem aber: Schallenbergs einzige Chance würde darin bestehen, eine breitere Öffentlichkeit für sich oder seine Anliegen zu gewinnen. Dabei gibt es jedoch zwei Probleme: Kurz dürfte nicht eifersüchtig und so böswillig wie bei Reinhold Mitterlehner unter ganz anderen Vorzeichen werden; er dürfte also nicht mobben. Außerdem müsste Schallenberg über politisches Gespür und kommunikative Fähigkeiten verfügen, um Leute begeistern zu können; beides ist nicht bekannt von ihm.
Ein Ende der türkisen Zeit mit Schrecken hätte die ÖVP bitter nötig: In den nächsten Monaten und Jahren werden über eine strafrechtliche und eine politische Ebene (Stichwort U-Ausschuss) Affären ein Thema bleiben, die nun zu ihrem Einbruch geführt haben. Das beschädigt Türkis nur noch mehr und mehr.
Doch selbst wenn die Volkspartei einen solchen Schnitt zusammenbringen würde, würde es mit Problemen weitergehen, die nicht kleiner sind: Leider müssen in Österreich keine Angaben über Parteischulden veröffentlicht werden. Rechenschaftsberichte lassen lediglich diese Aussage zu: Die Bundes-ÖVP hat 2013 bis 2018 um 20 Millionen Euro mehr Kredite aufgenommen als zurückbezahlt. Zum Vergleich: An Parteienförderung erhält sie heuer „nur“ 11,7 Millionen Euro. Für 2019 (Wahljahr!), geschweige denn 2020 liegen noch keine Berichte vor.
Wer diese Partei übernimmt, muss zudem Personal für all ihre Einrichtungen, von der A wie Akademie bis Z wie Zentrale, ebenso mitbringen wie für Ministerkabinette und deren Chefs; das sind durchwegs durch und durch Kurz-Leute. Sie haben mit ausgemacht, dass „Message Control“ und solche Dinge so lange wirkungsvoll sein konnten. Sie sind heute eine Belastung.
Die schwerste Aufgabe ist jedoch folgende: Sebastian Kurz hat von Landes- und Bündeobleute die Ermächtigung erhalten, einen ganz anderen Kurs zu wählen. Stichwort Rechtspopulismus. Im Hinblick auf Wahlergebnisse ist das voll aufgegangen. Die ÖVP ist auf mehr als 37 Prozent geklettert. Allein: Gelungen ist das vor allem auch mit Hilfe ehemaliger FPÖ-Anhänger. Laut SORA-Wählerstromanalysen hat die türkise ÖVP 2017 und 2019 netto über 300.000 gewonnen. Ohne sie wäre sie kaum über 30 Prozent gekommen.
Ein neuer Chef, der diesen Kurs nicht fortsetzen möchte, müsste sich um Angebote für neue Wähler bemühen, um den Verlust, der hier droht, auch nur einigermaßen kompensieren zu können. Das jedoch ist eine doppelte Kunst: Einerseits ist es kein Kinderspiel, Grünen und Neos Anhänger in großer Zahl abzunehmen. Andererseits besteht die Gefahr, dass schwarze Länder und Bünde gerade nach den Erfahrungen mit Sebastian Kurz wieder stärker darauf achten, dass ihre Interessen berücksichtigt werden.
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