Konsequenzen: Nicht ausreichend

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ANALYSE. Sebastian Kurz riskiert selbst sehr viel damit, einen vollständigen Rückzug aus der Politik verweigert zu haben. Von der ÖVP gar nicht zu reden.

Der Druck muss enorm gewesen sein. Freitagabend hatte Sebastian Kurz einen Rücktritt als Bundeskanzler ausgeschlossen, hatten „seine“ Ministerinnen und Minister angekündigt, im Falle seiner Ablöse ebenfalls zu gehen, ja hatte Kurz an die Grünen appelliert, von den Barrikaden herunterzukommen und die Zusammenarbeit fortzusetzen. 24 Stunden später war klar, dass die Zusammenarbeit fortgesetzt wird, obwohl die Grünen ihre Position nicht verändert hatten; und die Ministerinnen und Minister bleiben, obwohl Kurz seinen Rücktritt als Kanzler verkündet hatte.

Noch ist ungewiss, wie groß die Zäsur für die österreichische Politik ist: Hier ist ausgeführt, warum Kurz der mächtigste Mann bleiben kann. Aussagen von ihm und Türkisen sollte man bei alledem nicht zu viel Gewicht beimessen: Man sollte nicht ausschließen, dass es dem 35-Jährigen und seinen Leuten darum geht, sein Gesicht zu wahren. Selbst eine „Entschuldigung“ oder ein ernsthaftes Wort des Bedauerns für all das, was vorgefallen ist, könnte als Schuldeingeständnis verstanden werden. Und ein solches ist halt unmöglich, wenn es beim Verständnis von politischer Verantwortung derart hapert. Im Übrigen sei daran erinnert, dass Kurz, wenn etwas danebengegangen ist, eigene Beträge dazu bisher noch nie miteingeschlossen hat. Als wäre er unfehlbar.

Bemerkenswert sind jedenfalls diese Unterschiede zwischen der Ibiza- und der nunmehrigen ÖVP-Affäre. Der damalige FPÖ-Chef und Vizekanzler Heinz-Christian Strache habe mit den Äußerungen im Video „kein strafrechtlich relatives Faktum geschaffen“, erinnert der Vorarlberger Grünen-Landesrat Johannes Rauch in seinem Blog. Trotzdem habe er gehen müssen: „Zu Recht. Weil es auch eine politische Verantwortung gibt, weil ein Vizekanzler der Republik Österreich mit der Last dieses Videos nicht mehr akzeptabel und nicht mehr handlungsfähig ist.“

Sebastian Kurz hat sich nach Veröffentlichung des Videos nicht mit dem Rücktritt von Strache zufriedengegeben. Zu Recht. Bei den Freiheitlichen habe es keine erkennbare Bereitschaft „für eine tiefgreifende Veränderung auf allen Ebenen der Partei“ gegeben, erklärte er zutreffend.

Gemessen an diesen Worten und an den Maßstäben, die bei Strache angewendet wurden, ist der bloße Rücktritt von Sebastian Kurz als Bundeskanzler schlicht eines: Nicht ausreichend. Zumal er ja Klubobmann wird und Bundesparteichef bleibt.

Der 35-Jährige kann froh sein, dass Wahlkampf-Kostenüberschreitung in Österreich ein Kavaliersdelikt ist. In Frankreich ist das – siehe Nicolas Sarkozy – mit Haft bedroht. Politisch (!) ist es in jedem Fall betrügerisch: Wie das Verbot von Dopingmitteln im Sport soll die Ausgabenbegrenzung in Wahlkämpfen einen möglichst fairen Wettbewerb bringen bzw. die Nachteile reduzieren, die kleine Listen haben, die sich keine üppigen Kampagnen leisten können. Politisch hatte das im Falle der ÖVP, die unter Kurz 2017 fast doppelt so viel ausgegeben hat wie erlaubt, bisher jedoch null Konsequenzen.

Politisch haben auch die aktuellen Vorwürfe, bei denen mutmaßlich strafrechtlich relevante Fakten geschaffen wurden und nicht nur Kurz und mehrere Mitarbeiter, sondern auch die ÖVP als Beschuldigte geführt wird, vorerst kaum Konsequenzen. Rechtlich gilt die Unschuldsvermutung. Hier geht es aber eben um eine andere Dimensionen: Dokumentiertes Mobbing gegen Reinhold Mitterlehner, bei dem Kurz immerhin das Wort „Arsch“ bedauert (bzw. bestätigt); das Verhindern von wichtigen Maßnahmen wie dem Ausbau der Nachmittagsbetreuung an Schulen, nur weil sie nicht zu den eigenen Erfolgen gezählt werden können; Inseratengeschäfte, die allein schon aufgrund ihres Volumens ungeheurelich gegenüber SteuerzahlerInnen sind; und vieles andere mehr.

Der Rücktritt als Bundeskanzler ist unterm Strich eine bescheidene Konsequenz, wenn Kurz gleichzeitig Parteichef bleibt und Klubobmann wird. Zur Erinnerung: Bei Strache hat – zu Recht – nicht einmal der völlige Rückzug der Person aus der Politik gereicht.

Das Risiko, das damit einhergeht, ist für die ÖVP ebenso groß wie für Sebastian Kurz: Die Ermittlungen der Wirtschafts- und Korruptionsstaatsanwaltschaft werden noch gut und gerne ein Jahr andauern. Zusätzlich wird es zu den Affären einen parlamentarischen Untersuchungsausschuss geben, für den SPÖ, FPÖ und Grüne sorgen werden. Selbst wenn nun keine neuen Chats mehr auftauchen sollten, wird die ÖVP mit Kurz also noch sehr lange unter Druck bleiben. Ihre einzige Hoffnung besteht darin, dass es am Ende zu keinen Anklagen oder Verurteilungen kommt, dass sich alle Vorwürfe nach ihrer Darstellung also „in Luft auflösen“ und sie mit Kurz als Opfer einer Kampagne zuversichtlich in einen Wahlkampf schreiten kann. All das ist jedoch alles andere als kalkulierbar.

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