ANALYSE. Die österreichische Parteienlandschaft steht vor einer grundlegenden Veränderung: Die ÖVP befindet sich im freien Fall, die SPÖ profitiert kaum davon. Eher tun das Parteien, die noch kleiner sind.
Die ÖVP werde nach den jüngsten Ereignissen zehn Prozentpunkte verlieren, in drei Monaten werde aber alles wieder okay sein. Davon geht Parteichef, Ex-Kanzler Sebastian Kurz, laut „Vorarlberger Nachrichten“ aus. Chefredakteur Gerold Riedmann schreibt, er irre sich. Und nachdem jetzt auch der Tiroler Günther Platter, der sich als letzter ÖVP-Landeshauptmann noch schützend vor Kurz gestellt hatte, auf Distanz geht, muss man sich wirklich fragen: Könnte es nicht sogar wahrscheinlicher sein, dass der 35-Jährige in drei Monaten auch als Bundesparteiobmann zurückgetreten sein wird? Fakt ist, dass die Affären noch lange nicht ausgestanden sind. Gerade kam die Meldung, dass eine involvierte Meinungsforscherin festgenommen worden ist. Türkise Systeme, um die es hier geht und an deren Spitze sich Sebastian Kurz nun einmal befindet, werden mehr und mehr zur Belastung für die Schwarzen.
Das mit den zehn Prozentpunkten hat Kurz übrigens sehr gut eingeschätzt. Das kann er. Mit Umfragen muss man zwar vorsichtig sein. Die „Kronen Zeitung“, die keinen Grund hat, ihm nachzutreten, berichtet aber von einer ersten Erhebung, wonach die ÖVP auf 25 Prozent abgestürzt ist und damit nur noch gleichauf mit der SPÖ liegt.
Womit wir beim entscheidenden Punkt angelangt wären: In Österreich bahnen sich weitreichende Veränderungen an. Sehr viel spricht dafür, dass die ÖVP auf Bundesebene auf dem Weg zu einer Mittel- oder gar Kleinpartei ist. Zumal die Partei ohne Kurz erst wieder neu aufgebaut werden muss und sich auch keine geeigneten Leute dafür aufdrängen.
Umgekehrt profitiert die andere ehemalige Großpartei nicht davon. Die Rede ist von der SPÖ. Sie verliere nach dem ÖVP-Skandal „nur fünf Prozentpunkte“, schreibt die satirische Tagespresse. Das ist übertrieben, hat aber etwas: Sozialdemokraten legen nicht groß zu. Genauso wie sie zuletzt in Oberösterreich bei der Landtagswahl auf einem historisch extrem niedrigen Niveau geblieben sind. Oder im vergangenen Jahr in Wien trotz einem Minus von fast 24 Prozentpunkten für die FPÖ nur um zwei zulegen konnten.
Am vergangenen Wochenende fühlte man sich an deutsche Verhältnisse erinnert: Treibende Kräfte des Geschehens waren eher Kleine. Also Grüne. Und auch die Neos haben mit Beate Meinl-Reisinger an der Spitze Probleme, um die es geht, deutlicher auf den Punkt gebracht als die SPÖ. Sie war gewissermaßen in einer Zuschauerrolle und tat sich schwer, Alternativszenarien zu einer Kurz-geführten Regierung zu kommunizieren, zumal es dabei immer auch um eine Zusammenarbeit mit der Herbert Kickl-FPÖ ging. Es rächt sich, dass sie sich nie um ein längerfristig anderes Alternativszenario bemüht, nämlich Rot-Grün-Pink.
Das Wochenende hat gezeigt, dass die SPÖ nicht aufgestellt ist für allfällige Neuwahlen, mit denen jetzt jederzeit zu rechnen ist. Davon profitieren könnten Freiheitliche, Grüne und Neos. Es ist nicht abschätzbar, wo sie in einem Jahr liegen werden. Es erscheint jedoch mehr denn je realistisch, dass weder Türkis-Schwarze noch Rote bestimmend sein werden.
Diese Behauptung lässt sich stützen. Siehe Bundespräsidenten-Wahlen 2016. Im ersten Wahlgang landeten ÖVP und SPÖ mit ihren Kandidaten bei jeweils elf Prozent. Elf Prozent! In die Stichwahl kamen Alexander Van der Bellen (Grüne) und Norbert Hofer (FPÖ) mit zwei, drei Mal mehr.
These: Das war eine Phase in der österreichischen Politik, in der auch auf Bundesebene tektonische Verschiebungen möglich gewesen wären. In Sonntagsfragen lagen die Freiheitlichen unter Heinz-Christian Strache vorübergehend auf Platz eins. Letztlich blieben die „alten“ Großparteien bei der Nationalratswahl 2017 zwar vorne. Dabei trat jedoch keine schwarze ÖVP mehr an, sondern eine türkise, die ausschließlich auf Sebastian Kurz ausgerichtet war.
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