ANALYSE. Was im Übrigen für Überraschungen spricht bei der Nationalratswahl 2024.
SPÖ-Chef Andreas Babler hat in der ORF-Wahlkonfrontation mit Beate Meinl-Reisinger (Neos) darauf hingewiesen: Es kann anders kommen als man denkt. Vor der jüngsten Landtagswahl im deutschen Brandenburg war die AfD – wie schon bei Erhebungen in den vergangenen zwei Jahren – in allen Umfragen vorne gelegen. Und zwar deutlich: Mit bis zu fünf Prozentpunkten Vorsprung auf die SPD. Am Ende erreichte diese jedoch 30,9 und sie selbst „nur“ 29,2 Prozent.
Auch im Hinblick auf die Nationalratswahl am kommenden Sonntag sollte man nichts ausschließen. Vielleicht ist Herbert Kickl (FPÖ) zum Beispiel übermütig geworden, werden ihm Sprüche wie „Euer Wille geschehe“ zum Verhängnis; vielleicht waren all seine bisherigen Bemühungen, möglichst viele Menschen mit dem Gedanken anzufreunden, dass er Kanzler, ja „Volkskanzler“ werden könnte, unzureichend. Auffallend ist jedenfalls, dass die Österreicherinnen und Österreicher laut einer „Gallup“-Befragung von Mitte September eher ÖVP-Obmann Karl Nehammer (38 Prozent) und Babler (37 Prozent) in der nächsten Regierung sehen wollen als ihn (33 Prozent), dem laut APA/OGM-Index im Übrigen ja noch immer Sieben von Zehn misstrauen.
Fakt ist: Kickl hat viele gegen sich und einige für sich. Sie bedient er, sie versucht er ganz an sich zu binden; in der Hoffnung, dass das eine relative Mehrheit ergibt. Das ist jedoch insofern riskant, als es sich dabei nur um ein Viertel bis ein Drittel handelt. Eine Größenordnung also, bei der man nicht dominant sein kann, sondern fürchten muss, hinter zumindest einer anderen größeren Partei zu bleiben.
Abgesehen davon gibt es für die ÖVP noch immer ein sehr großes Wählerpotenzial. Darauf lassen jedenfalls „Foresight“-Daten zur Europawahl im vergangenen Juni schließen. Gegenüber der Nationalratswahl 2024 hat die Volkspartei damals erwartungsgemäß fast eine Viertelmillion Wähler an die Freiheitlichen verloren. Sie waren wegen Sebastian Kurz gekommen und sind nach dessen Rückzug wieder weg.
Viel bemerkenswerter war jedoch, dass 651.000 ÖVP-Wählerinnen und -Wähler des Jahres 2019 nicht zu den Freiheitlichen oder einer anderen Partei gingen, sondern zu Hause blieben. Man könnte auch sagen, sie hätten sich in einen Warteraum begeben. Entweder, weil sie die Europawahl nicht interessierte oder weil sie keine wählbare Alternative sahen. Mit ihnen geht ein erhebliches Potenzial für Nehammer und Co. einher. Mit einem passenden Angebot sind sie gewinnbar.
Bei anderen Parteien ist dieses Potenzial nicht annähernd so groß: Bei SPÖ und FPÖ sind bei der Europawahl nicht halb so viele Wähler zu Hause geblieben; bei den Freiheitlichen, die große Gewinner waren bei diesem Urnengang, handelte es sich eher nur um ein Drittel (234.000). Bei den Grünen waren es 41.000, bei Neos 47.000.