Dem Volk geht das Recht aus

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ANALYSE. Der Bundeskanzler bringt ein besorgniserregendes Rechtsverständnis zum Ausdruck. Die Not ist keine Ausrede dafür.

Immer wieder ist es wichtig, über den Tellerrand zu schauen. Das zeigt, dass Österreich nicht das einzige Land ist, das die COVID-19-Gesundheitskrise bisher ganz gut unter Kontrolle gebracht hat. Auch Deutschland, Neuseeland, Norwegen, die Schweiz und andere haben das erfreulicherweise zusammengebracht. Der Blick lehrt im Übrigen, dass die Demokratie nicht nur in Österreich eine Art Auszeit hat. Ja, man muss es so sagen. Siehe Wikipedia-Eintrag zur Schweiz: Zum ersten Mal seit dem Zweiten Weltkrieg regiere der Bundesrat, also die eidgenössische Regierung, mit Notrecht, heißt es da: Es sei ihr möglich, „unmittelbar alles zu beschließen, was sie für notwendig erachtet, um schweren Störungen der öffentlichen Ordnung oder der internen oder äußeren Sicherheit zu begegnen“. Soll heißen: „Der Bundesrat kann somit handeln, ohne Parlament, Kantone und Volk einzubeziehen.“

Das zeigt, dass wir nicht allein auch in so grundsätzlicher Hinsicht außergewöhnliche Zeiten haben. Das ist das eine: Demokratie und Rechtsstaatlichkeit sind trotzdem nicht bedeutungslos geworden. Ganz im Gegenteil. Natürlich geht es zunächst einmal ums gesundheitliche und in weiterer Folge auch ums soziale und ums wirtschaftliche Überleben. Gerade weil dem so ist und hier weitreichende Maßnahmen, wie Ausgangsbeschränkungen oder de facto Berufsausübungsverbote ergriffen werden, sind Rechtsstaatlichkeit und Demokratie jedoch extrem wichtig.

Doch eines nach dem anderen: Zahlreiche Juristen haben in den vergangenen Tagen ihr Unbehagen über diverse Erlässe und Entscheidungen der Regierung zum Ausdruck gebracht. „Verfassungswidrig“ ist ein Begriff, der dabei immer wieder vorkommt. Zum Beispiel, wenn Vertretern bestimmter Berufsgruppen ein Recht auf Dienstfreistellung vorenthalten wird (siehe Details dazu hier). Oder wenn die Regierung mit allerhand Ermächtigungen ausgestattet wird (Details dazu hier).

Das kann schon für sich genommen Unbehagen auslösen: Selbst wenn man davon ausgeht, dass Entscheidungsträger nach bestem Wissen und Gewissen agieren, bleibt es möglich, dass Befugnisse missbraucht und willkürlich ausgelegt werden. Das ist ein springender Punkt. Zumal kein wirkungsvolles Mittel dagegen vorgesehen ist.

Bundeskanzler Sebastian Kurz (ÖVP) will die Kritik nicht verstehen: „Ich bitte um etwas Nachsicht, dass es eine Ausnahmesituation ist.“ Juristen sollten Fragen in diesem Bereich nicht überinterpretieren, wird er von ORF.AT zitiert. Und weiter: Es gehe darum, dass die Maßnahmen eingehalten werden und „die Republik funktioniert“.

Das ist ein Totschlagargument, das sich selbst richtet: Gerade jetzt, wo es um so viel geht, sollten Demokratie und Rechtsstaatlichkeit in besonderer Weise gepflegt werden. Selbstverständlich unter angepassten Umständen. Beispiele: Es gehört so viel wie möglich gesetzlich-konkret geregelt. Dadurch wäre unter anderem gewährleistet, dass die Volksvertreter, also die Parlamentarier, involviert wären. Aber klar: Das würde auch ein selbstbewusstes Parlament voraussetzen, in dem sich gerade auch Mitglieder von Regierungsfraktionen in einer kritisch-konstruktiven Rolle sehen.

Zweitens: Wenn schon schnell weitreichende Maßnahmen nötig sind, dann müssen für die Zukunft auch Kontrollmechanismen geschaffen werden. In Form eines ständigen Parlamentsausschusses etwa, der wirklich permanent involviert ist ins Krisenmanagement; und in Form einer unabhängigen, begleitenden Gesetzesprüfung.

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