ANALYSE. Statt Klartext zu reden, wird schon zu lange eine Neutralitätslüge gepflegt. Durch die Beteiligung an „Sky Shield“ rächt sich das.
Die Mehrheitsverhältnisse in der Bevölkerung sind klar. Rund 70 Prozent wollen, dass Österreich neutral bleibt. Also sagt Bundeskanzler Karl Nehammer (ÖVP), man werde neutral bleiben. Also gibt sich FPÖ-Chef Herbert Kickl in Zeiten des Krieges in Europa als der größte Verteidiger der Neutralität aus. Also scheinen sich auch Sozialdemokraten schwerzutun, eine Linie zu finden, die ernstgenommen werden könnte.
Das ist das Tragische an der Außen- und Sicherheitspolitik: Es gibt keine Neutralitätspolitik. Niemand betreibt sie, niemand hat ein Konzept dafür. Es wird nur so getan als ob. Auf der anderen Seite gibt es – die Neos ausgenommen – auch niemanden, der sinngemäß sagt, Schluss damit, beteiligen wir uns doch gleich an einem Bündnis.
Ja, es ist noch viel schlimmer: Seit dem EU-Beitritt gibt es eine Schere zwischen Zwängen und Verpflichtungen, die man eingegangen ist und der Darstellung, wonach man weiterhin neutral sei. Das stärkt bei einer Masse die Überzeugung, dass diese Neutralität bleiben müsse.
Selten gab es Momente, in denen sich Politiker aufmachten, das zu ändern; im Wissen, dass man den Leuten nicht ewig etwas vormachen sollte. Wolfgang Schüssel erklärte am Nationalfeiertag 2001: „Die alten Schablonen – Lipizzaner, Mozartkugeln oder Neutralität – greifen in der komplexen Wirklichkeit des 21. Jahrhunderts nicht mehr.“ Die Aufregung war groß. Unmittelbar darauf betont er, die Frage sei „nicht aktuell“. Zwischendurch galt dann eine Formel, wonach Österreich im europäischen Verband (EU) solidarisch sei.
Nach Beginn des russischen Angriffskrieges auf die Ukraine sprach sich ÖVP-Wehrsprecher Friedrich Ofenauer dafür aus, über die Neutralität zu diskutieren. Ergebnis: Karl Nehammer bekräftigte, „Österreich war neutral, Österreich ist neutral, Österreich wird auch neutral bleiben“.
Die Tragik ist, dass man sich in der EU bereits auf eine Unterstützungspflicht für den Fall eines Angriffs auf ein Mitgliedsland eingelassen hat, die Leute aber weiter im Glauben gelassen hat, es sei alles beim Alten geblieben. Und dass jetzt eine Beteiligung an der „European Sky Shield Initiative“ (ESSI) daherkommt. Nehammer und Verteidigungsministerin Klaudia Tanner haben diese am Samstagabend – zur nachrichtenfreien Zeit sozusagen – verkündet.
Gerade wenn man eine Beteiligung an einem Raketenabwehrsystem gut findet, muss man das trotzdem fortgesetzte Neutralitätsgerede als Katastrophe sehen: Wie stellt man sich das vor? Der Journalist Oliver Das Gupta wirft auf Twitter die Frage auf, ob man dann eine Rakete abschießen müsste, die über die rotweißrote Republik fliegen und auf Städte und Militäranlagen in Deutschland zielen würde.
Natürlich müsste man das tun. Dem Sinn der Sache würde es entsprechen. Und daran ändert auch die Tatsache nichts, dass es sich um kein NATO-Projekt handelt. Außenminister Alexander Schallendberg (ÖVP) hat in der ORF-Pressestunde so getan als wäre das entscheidend. Entscheidend ist vielmehr dies: Es handelt sich um ein gemeinsames Schild von – aus heutiger Sicht – 17 Staaten. Es soll die Sicherheit aller erhöhen. Es ist selbstverständlich, dass dieses System nur dann Sinn macht, wenn jedes teilnehmende Land im Sinne des Beispiels von Das Gupta so daran mitwirkt, als wäre ein Angriff auf ein anderes Land ein Angriff auf sich selbst. Da gibt es keinen Spielraum mehr für Neutralität, nicht einmal mehr für den Rest, der als militärische Neutralität bezeichnet wird. Das könnte man jedoch als Notwendigkeit darstellen und nicht so tun, als wäre man weiter so neutral wie, sagen wir, in den 1960er Jahren.
Der Wahnsinn ist, dass diese Unaufrichtigkeit FPÖ-Chef Herbert Kickl nützt. Er redet von einer „verheerenden neutralitätspolitischen Entscheidung“. Dabei geht es ihm nicht um die Sicherheit Österreichs, sondern einzig und allein darum, eine Sehnsucht nach einer vermeintlich guten Vergangenheit mit der Vorstellung zu pflegen, dass man es sich in einer isolierten Festung schon irgendwie richten könne. Darauf sprechen zu viele Menschen an; zu viele insofern, als sie das wirklich glauben, weil es im Wesentlichen dem entspricht, was ihnen seit Jahrzehnten eingeredet wird.