Türkise in der Telefonzelle

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ANALYSE. Nicht einmal eine gut aufgestellte ÖVP könnte es sich leisten, die Koalition jetzt zu sprengen. Ausgerechnet der Karl-Nehammer-Truppe ist das alles jedoch egal.

Als Ex-Kanzler Christian Kern (SPÖ) 2016 in die Politik einstieg, verglich er jene in der ÖVP, die mit Neuwahlen spielten, mit „Selbstmordattentätern, die sich einsam in einer Telefonzelle sprengen“. Diese Typen gibt es jetzt wieder: Sie haben diesmal zwar kein Talent in ihren Reihen, das Stimmung zu ihren Gunsten machen könnte, das ist Karl Nehammer und seiner Truppe jedoch egal. Sie versuchen es trotzdem.

Sie lassen einen Antrag für einen Untersuchungsausschuss verschicken, der ein Bemühen um Transparenz und Aufklärung vorgibt, sich aber ausschließlich gegen Sozialdemokraten, Freiheitliche, ja auch Grüne, also ihren Koalitionspartner, richtet. Es geht insbesondere um Studien und Inserate, die Regierungsvertreter aus sachfremden Motiven vergeben haben könnten. Einen „Transparenz-U-Ausschuss“ sollte es dazu geben.

Diese Frechheit ist beträchtlich. Neos-Chefin Beate Meinl-Reisinger spricht zurecht von einem „Missbrauch eines parlamentarischen Instruments“: Ziel eines U-Ausschusses sei nie, den politischen Mitbewerber mit „Schlamm zu bewerfen“, sondern die Kontrolle der heimischen Verwaltung und die politische Verantwortung dafür zu klären.

Zweitens: Nach dem Abschied von Sebastian Kurz gab es ein kleines Zeitfenster in der Karl-Nehammer-ÖVP. Es wurde zunächst dazu genützt, Aufklärung zu betreiben. Aus dieser Zeit stammt ein Bericht aus dem Finanzministerium, der zeigt, was in jedem Fall untersucht gehören würde. Inseratenkorruption im Sine nicht nachvollziehbarer Auftragsvergaben unter schwarz-türkiser Verantwortung.

Kleine Auszüge: „Eine Standardauswertung aus dem Haushaltsverrechnungssystem (des Finanzministeriums; Anm.) zeigt ein kontinuierliches Ansteigen der Ausgaben für Öffentlichkeitsarbeit von EUR 2,84 Mio. im Jahr 2015 auf EUR 13,22 Mio. im Jahr 2020.“ Oder: „Die Mediengruppe ÖSTERREICH erreichte bei vier Kampagnen (des Finanzministeriums; Anm.) im Jahr 2017 Auftragsvolumenanteile von 9,6% bis 30,3 % pro Kampagne und bei zehn Kampagnen im Jahr 2018 Auftragsvolumenanteile von 5,4% bis 34,1%.“ Sprich: Bis zu einem Drittel des ganzen Steuergeldes ging willkürlich und allein an die Fellner-Zeitung, die Teil des sogenannten Beinschab-Tools ist.

Drittens: Wenn in Österreich eine Partei gegen Transparenz steht, dann ist es die ÖVP. Sie verzögert die Einführung von Informationsfreiheit, ihre Rechenschaftsberichte lassen seit Jahren am längsten auf sich warten.

Offensichtlich mag die ÖVP nun aber ablenken. Wer weiß, was sich in den türkisen Affären, zu denen die Wirtschafts- und Korruptionsstaatsanwaltschaft ermittelt, noch ergibt. Man ist breit, Kurz-Verteidigungs-Liga zu sein – und dabei auch ein Koalitionsende und Neuwahlen zu riskieren.

Worüber man sich wundern kann: Für die ÖVP ist niemand in Sicht, der ihr ein brauchbares Ergebnis bescheren könnte. Karl Nehammer ist es nicht. Er hat das jetzt hinlänglich bewiesen. Der Mann liegt in der Kanzlerfrage mit bestenfalls 20 Prozent (!) noch schlechter als seine Partei in der Sonntagsfrage (eher auf Platz drei hinter der SPÖ, jedenfalls aber hinter der führenden FPÖ).

Von der Papierform her müsste die ÖVP hoffen, nach einer Wahl zwei Optionen zu haben. Blau-Türkis oder Rot-Türkis. Dann könne sie wenigstens ein bisschen pokern. Aber nein, Brücken zur SPÖ werden abgerissen. Siehe Nehammers Ausführungen zur Sozialpartnerschaft. So wird man also um jeden Preis die Juniorpartnerin einer Kickl-FPÖ spielen müssen, um dann bald auch das 40. Jahr in einer Regierungsbeteiligung begehen zu können.

Ursprünglich war an dieser Stelle ja ein Text mit dem Titel „Wahlkampf ist Wahnsinn“ geplant. Inhalt: Jetzt nicht bis zum letztmöglichen Termin für das Land zu arbeiten, ist gefährlich für eine Regierungspartei. Grund: Die wirtschaftliche Stimmungslage ist so, dass sie eher nur (stärker) verlieren kann.

Den Hinweis dazu liefert der Konjunkturtest, den das Wirtschaftsforschungsinstitut WIFO seit vielen Jahren regelmäßig durchführt. Dabei werden rund 1600 Unternehmen gefragt, wie sie die wirtschaftliche Lage einschätzen und welche Erwartungen sie haben. Ausgewiesen wird ein Indexwert.

Nicht nur, was die Lage, sondern auch, was die Erwartungen betrifft, ist dieser Indexwert in den vergangenen Monaten abgestürzt wie die Umfragewerte der ÖVP seit Bekanntwerden erster Kurz-Affären 2021. Und zwar von gut 10 im April auf minus 9,8 im August. Auf diesem Niveau ist er zuletzt geblieben. Für September wird ein Wert von minus 9,6 ausgewiesen.

Stärker im Minus war der Indexwert im laufenden Jahrhundert erst zwei Mal: In der Wirtschafts- und Finanzkrise Ende der 2000er mit minus 27,5 und zu Beginn der Pandemie mit minus 38,8. Beide Male war es schon nach einem Monat zu einer deutlichen Entspannung gekommen, hatte sich die Stimmung wieder etwas aufgehellt. Das ist heute auf niedrigerem Niveau anders – und könnte daher zu denken geben.

Mit Beginn des russischen Angriffskrieges auf die Ukraine ist es zu einer Zeit extremer Unsicherheiten gekommen. Zunächst ist der Index um 20 Punkte knapp ins Minus gerutscht, dann im heurigen Frühjahr für einen Monat (April) deutlich ins Plus geklettert. Danach ist er wieder abgestürzt. Darüber kann kein „Glaub an Österreich“ hinwegtäuschen.

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