ANALYSE. Plötzlich braucht die ÖVP, die bisher keine Rücksicht auf ihre Koalitionspartnerin genommen hat, Hilfe. Das ist eine Chance für Kogler und Co. Andererseits: Längerfristig entscheidend ist, ob hier partnerschaftliche Sitten einkehren.
Hochmut kommt vor dem Fall: Wenige Wochen ist es her, dass Innenminister Karl Nehammer türkise Politik exekutieren und bestens integrierte Schülerinnen abschieben ließ. Den Grünen hat das wieder einmal größte Probleme beschert: Wie schon bei der Nicht-Aufnahme von Flüchtlingen aus Moria reagierten Anhängerinnen und Anhänger von ihnen empört oder wandten sich gar ab, weil ist sie eine Beteiligung an einer Regierung ablehnen, in der so etwas möglich ist.
Die Volkspartei nahm keine Rücksicht darauf. Im Gegenteil: Vizekanzler Werner Kogler, der derzeit auch Justizminister ist, kündigte eine Kommission zum Umgang mit Kindern in solchen Fällen an. Die Antwort von ÖVP-Klubobmann August Wöginger: Man sehe vorerst keinen Grund, auch nur irgendetwas zu ändern. Zusatz: „Wir halten uns an das Regierungsprogramm, dort ist nichts dergleichen verankert.“
Das rächt sich nun. Und zwar ganz brutal: Die ÖVP hat eine große Not. Sie will sich bei der Wirtschafts- und Korruptionsstaatsanwaltschaft (WKStA) dafür rächen, dass sie in der Ibiza-Affäre nicht nur blau sieht, sondern zuletzt auch noch Finanzminister Gernot Blümel und indirekt auch Bundeskanzler Sebastian Kurz (beide ÖVP) ins Visier genommen hat. Für eine WKStA-Schwächung, wie sie vom „Kurier“ hier kolportiert worden ist, hätte sie jedoch die Hilfe der Grünen gebraucht. Kogler erteilte eine Absage. Und der Nationalratsabgeordnete David Stögmüller antwortete auf Twitter ungefähr so wie Wöginger zur Kindeswohlkommission; nur halt umgekehrt: „Die #ÖVP darf ja auch zur #WKStA eine Privatmeinung haben – sie ist halt nicht kompatibel mit unserer.“
Die #ÖVP darf ja auch zur #WKStA eine Privatmeinung haben – sie ist halt nicht kompatibel mit unserer.
— David Stögmüller (@Stoegmueller) February 23, 2021
Die Grünen haben nun ein Heft in der Hand. Sie können zulassen, was sie selbst ohnehin wollen (wie einen Bundesstaatsanwalt, zu dem es laut Kogler gerade eine sehr grundsätzlich Einigung gegeben hat); oder ÖVP-Wünsche mit der Begründung abweisen, dass sie nicht im Regierungsprogramm stünden: „Sorry.“
Für Werner Kogler und Co. ist das eine unverhoffte Chance: Die Empörung über die Angriffe von Sebastian Kurz und den Seinen auf die WKStA reicht weit über ihre Kernklientel hinaus: In der „Tiroler Tageszeitung“ fordert etwa Innsbrucks Oberlandesgerichtspräsident Klaus Schröder Bundespräsident Alexander Van der Bellen auf, „die rein politisch motivierten Aussagen der ÖVP gegen die Justiz in die Schranken zu weisen“. Sprich: Die Grünen können sich als Verteidiger des Rechtsstaates profilieren und damit nicht zuletzt auch bei eigenen enttäuschten Anhängern wieder einiges gutmachen.
Allein: Wenn die ÖVP aus diesen Erfahrungen nicht lernt, in der Koalition eine partnerschaftliche Zusammenarbeit auf Augenhöhe zu betreiben und auch ihre Partnerin zu beachten, wird das hier unter Umständen nur ein grüner Pyrrhussieg. Sie sind ja vor allem auch in die Regierung gegangen, um für den Klimaschutz etwas zu erreichen. Und zumal das Regierungsprogramm zur Ökologisierung des Steuersystems sehr vage ist, sind sie dabei wiederum auf Zugeständnisse der Türkisen angewiesen. Sonst kann wenig bis nichts darauf werden.
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