Selbsttäuschung mit Hetze

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ANALYSE. Die zweite Welle ist aus dem Ausland eingeschleppt worden; und zu unserem Schutz dürfen über Weihnachten keine Touristen kommen, sagt die Regierung. Das ist nicht nur absurd.

In der Krise wird Stimmung wie unmittelbar vor Nationalratswahlen gemacht. Das üble Spiel nimmt kein Ende: Bundeskanzler Sebastian Kurz (ÖVP) vermittelt den Eindruck, dass es zu keiner zweiten Welle und auch zu keinem Lockdown gekommen wäre, wenn es da nicht die Menschen mit Migrationshintergrund gegeben hätte, die das Virus im Sommer aus ihren ursprünglichen Herkunftsländern „eingeschleppt“ hätten.

Das grenzt erstens an Hetze und ist zweitens überwiegend falsch: Wie auch dieSubstanz.at erst nachträglich erkennen musste und hier auch dargestellt hat, ging die zweite Welle bald nach den Lockerungen in Folge des ersten Lockdowns los. Konkret: Ende Juni. Also lange vor der Reisezeit. Eine logarithmische Darstellung der Entwicklung seither zeigt nicht einmal einen erkennbarer Einfluss einer sorglosen Urlaubszeit.

Man sollte die Augen jedoch nicht verschließen: Die AGES hat das Infektionsgeschehen analysiert und ist sehr wohl zum Schluss gekommen, dass ein Teil der Ansteckungen im Ausland erfolgt ist. Ebendiese AGES hat darüber hinaus aber auch festgestellt, wie sich typische Cluster in Österreich gebildet haben: bei Partys nach einem Almabtrieb oder Feiern nach einer Taufe. Sprich: Die Geschichte lässt sich nicht auf Menschen mit Migrationshintergrund reduzieren – sie ausschließlich ihnen in die Schuhe zu schieben, ist schäbig und gefährlich zugleich.

Gefährlich unter anderem, weil es davon abhält, entscheidende Probleme zu lösen. Anders ausgedrückt: Wer so tut, als wäre eine gewisse Bevölkerungsgruppe schuld an der ganzen Misere, der mobilisiert nicht nur gegen sie und betreibt somit eine gesellschaftliche Spaltung. Er befeuert auch eine verhängnisvolle Sorglosigkeit. Motto: Wenn die Pandemie eh nicht durch „uns“ angetrieben wird, können wir ruhig wieder Partys feiern.

So ähnlich ist das auch bei den Grenzschließungen: Sofern es möglich ist, die Dinge objektiv und nüchtern zu betrachten, sollte von Reisen, die nicht zwingend nötig sind, dringend abgeraten werden. Deutschland macht das schon seit Monaten. Vor allem Italien hat zuletzt darauf gedrängt, den Skibetrieb bis Anfang Jänner europaweit einzustellen.

Dagegen ist die österreichische Regierung Sturm gelaufen und hat über Finanzminister Gernot Blümel und Landwirtschaftsministerin Elisabeth Köstinger (beide ÖVP) gleich einmal EU-Entschädigungen verlangt. Wobei man (hoffentlich) davon ausgehen kann, dass die beiden das taten, obwohl sie wussten, dass hier nicht die EU, sondern die Mitgliedstaaten das Sagen haben; das ist ein entscheidender Unterschied. These: Wie Kurz bei Menschen mit Migrationshintergrund ging es Blümel und Köstinger nur darum, diejenige zur Schuldigen zu erklären, bei der es am einfachsten geht („die EU“).

Am Ende musste die Regierung klein beigeben. Aber wie, das ist der Punkt, um den es hier geht: Wer nicht bereit ist, Verantwortung zu übernehmen und schlimmen Entwicklungen wirklich gezielt zu begegnen, der lenkt ab: Österreich hat im europäischen Vergleich noch immer so viele Infektionen gemessen an der Bevölkerung, dass es sich verhalten müsste wie eine Person mit einer ansteckenden Krankheit: vernünftigerweise zu Hause bleiben und nicht hinausgehen, um Andere zu schützen. Doch was passiert? Österreich sagt, es könne niemanden hereinlassen, weil die Gefahr allein von draußen komme.

Auch das ist nicht ungefährlich: Es vermittelt den Eindruck, dass wir selbst eh gut dastehen und man sich daher alles in allem doch relativ sicher fühlen und frei bewegen darf. Wenn diese Selbsttäuschung nur nicht schon der erste Baustein für eine dritte Welle ist.

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