ANALYSE. Kanzler und Co. haben sich zu Erfüllungsorganen der Länder degradieren lassen. Das ist kein Zustand, sondern Pflichtverletzung.
Man kann schon länger davon ausgehen, dass eine Forderung, die von zumindest zwei Landeshauptleuten erhoben wird, über kurz oder lang von der Bundesregierung erfüllt wird. Immer wieder ist das jedoch erschreckend: Nachdem Peter Kaiser (SPÖ/Kärnten) und Wilfried Haslauer (ÖVP/Salzburg) eine Impfpflicht-Aussetzungsdebatte eröffnet hatten, hielten Bundeskanzler Karl Nehammer (ÖVP) und Gesundheitsminister Wolfgang Mückstein (Grüne) zunächst noch an der Pflicht fest. Am Wochenende lenkte Nehammer jedoch ein. Ähnlich lief es bei der Abschaffung der Gratistests. Und überhaupt bei all den Lockerungen, die ausgehend von Ländern infrage gestellt wurden. Wie eine Welle rollte das gewissermaßen auf das Regierungsviertel in der Bundeshauptstadt zu, bis es dort ankam – und übernommen wurde.
Das hat nichts mehr mit Föderalismus zu tun. Es ist eine Selbstaufgabe, mit der eine Pflichtverletzung einhergeht. In der Schweiz, einem Land, in dem der Föderalismus gelebt wird, läuft es gerade auch in der Pandemie folgendermaßen: Der Bundesrat, also die Regierung, macht einen Vorschlag. Zuletzt etwa konkret zu Lockerungen. Dann werden die Kantone konsultiert und am Ende wird entschieden. In Österreich wird formal von der Regierung entschieden, die Initiative geht aber von den Ländern aus; sie konsultieren ihn eher nur, um ihn wissen zu lassen, was er zu tun hat.
Wobei das Problem ist, dass die Bundesregierung so mit sich umspringen lässt. Es mag nachvollziehbar sein, wie es dazu gekommen ist: Karl Nehammer wurde von den Landeshauptleuten zum designierten ÖVP-Chef und de facto auch zum Kanzler ernannt. Er hat ihnen gegenüber null Gewicht, hat keinen Wahlerfolg vorzuweisen und schon gar keine Aussicht auf einen solchen. Er ist eher nur ein Abwickler der Sebastian-Kurz-Hinterlassenschaft. Schlimmer: Er findet sich ab mit dieser Rolle.
Die Grünen haben dem nichts entgegenzusetzen. Sie sind viel kleiner, stellen keinen Landeshauptmann, sind bei allem, was beschlossen werden muss, besonders stark von türkiser Zustimmung abhängig. Selbst wenn es sich nur um ein paar Abgeordnete aus einem größeren Bundesland handelt, ist das relevant für sie. Ein Gesundheitsminister kann natürlich versuchen, zum Beispiel einem Tiroler Landeshauptmann etwas anzuschaffen; wenn dieser die Muskeln spielen und seine Mandatare im Hohen Haus auf die Barrikaden steigen lässt, ist die türkis-grüne Mehrheit jedoch gefährdet. Dann muss der Minister schauen, wo er bleibt. Wobei: Ex-Ressortchef Rudi Anschober (Grüne) hat hin und wieder trotzdem gesagt, was er sich von Günther Platter oder anderen Fürsten wünschen würde. Nachfolger Wolfgang Mückstein (Grüne) tut nicht einmal das.
Das leitet über zu den erwähnten Pflichtverletzungen: Nehammer, Mückstein und die übrigen Regierungsmitglieder tragen Verantwortung. Indem sie einfach immer nur tun, was Länder wünschen, entziehen sie sich dieser Verantwortung.
Das hat weitreichende Folgen. Im derzeitigen Stadium der Pandemie mag es nicht so auffallen. Deutlicher werden würde es bei steigenden Zahlen. Dann erklärt der Salzburger Landeshauptmann Wilfried Haslauer (ÖVP), dass es verrückt wäre, zu schauen, dass Kontakte reduziert und die Leute möglichst zu Hause bleiben; oder der Oberösterreicher Thomas Stelzer (ÖVP), dass es Gott sei Dank mehr als genug Spitalsbetten gebe. Dann wird einfach nichts gemacht.
Die Machtverschiebung zugunsten der Länder zieht Kreise: Sie finden (gemeinsam mit den Gemeinden), dass Informationsfreiheit einfach nur lästig wäre? Also verzichtet die zuständige Verfassungsministerin Karoline Edtstadler (ÖVP) auf eine weitere Initiative zur Abschaffung des Amtsgeheimnisses bzw. sorgt dafür, dass man Bürger weiterhin wie Untertanen dumm sterben lässt in öffentlichen Angelegenheiten (die in Wirklichkeit ja ausschließlich ihre wären).
Die Länder meinen (zurecht), dass der auslaufende Finanzausgleich hochattraktiv ist für sie, weil sie (wie auch die Gemeinden) automatisch einen fixen Teil der stark steigenden Steuereinnahmen bekommen? Bitteschön, gerne: Finanzminister Magnus Brunner (ÖVP) verkündet seine Verlängerung. Das ist in den vergangenen Wochen vielleicht untergegangen. Es wird jedoch dazu führen, dass eher keine Konsequenzen aus der Coronakrise bzw. den damit einhergehenden Bund-Länder-Missverhältnissen gezogen werden: Das hätte umgehend, noch heuer, angegangen werden müssen; und dazu wären vor allem auch finanzielle Druckmittel nötig gewesen, die der Bund gerade aus der Hand gegeben hat.
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