ANALYSE. Der ÖVP gelingt es, davon abzulenken, dass sie mehr denn je allein verantwortlich ist für Sicherheits-, Asyl-, Migrations- und Integrationspolitik. SPÖ und FPÖ schaffen es nicht, das herauszuarbeiten. Und überhaupt.
Vor wenigen Wochen befanden sich die Umfragewerte von Bundeskanzler Sebastian Kurz und der ÖVP, die er anführt, im freien Fall. Zuletzt ist es zu einer Stabilisierung gekommen. Eine Direktwahl des Regierungschefs würde der 34-Jährige ebenso deutlich für sich entscheiden, wie die Volkspartei bei einer Nationalratswahl weiterhin klar auf Platz eins kommen würde.
Aus größerer Entfernung betrachtet mag dies verwundern: Kurz hat ein katastrophales Frühjahr hinter sich, vom Corona-Krisenmanagement bis zu den unsäglichen Chats, in denen er ausgerechnet auch dazu aufforderte, einem Kirchenvertreter „Vollgas“ zu geben; damit verstörte er nicht irgendwen, sondern einen wichtigen Teil der ÖVP-Kernklientel. Im Übrigen zeigte er, dass all seine Versprechen von Leistung bis Ehrlichkeit eher nur Lug und Trug waren. Entscheidend ist die Familienzugehörigkeit. Ist es die richtige, kriegt man alles, was man will.
Solche Dinge aber geraten in Vergessenheit. Für eine Masse ist mit dem Sommer gefühlt das Realität geworden, worauf Kurz mit dem „Licht am Ende des Tunnels“ getippt hat. Masken werden fallgelassen, Urlaubspläne geschmiedet. Wenn das gut geht, die Detla-Variante also nicht vieles vermasselt, könnte es noch besser kommen: ein Wirtschaftswunder bahnt sich an. Wie hier ausgeführt, könnte die Arbeitslosigkeit schon bald so niedrig sein wie vor Corona und auch das BIP ein Niveau erreichen, als hätte es keine Krise gegeben. Es ist unglaublich.
Das klingt nach Party. Und eine gute Stimmung ist immer günstig für eine Regierungspartei und ihren Chef. Natürlich: All die Affären werden, möglicherweise befeuert durch einen neuen U-Ausschuss, weiter lodern. Irgendwann wird vielleicht auch Gernot Blümel als Finanzminister in die Wüste geschickt. Wenn es sich beim Nachfolger aber um einen Kapazunder handelt, wird die Rochade Kurz eher noch hoch angerechnet werden; wie Martin Kocher als Nachfolger von Christine Aschbacher. Nicht unwahrscheinlich ist außerdem eine Anklageerhebung gegen Kurz wegen Falschaussage vor dem Ibiza-U-Ausschuss. Sollte sie mit einem Freispruch enden, wird das von den Spin-Doktoren jedoch als Niederlage für die Wirtschafts- und Korruptionsstaatsanwaltschaft bzw. als Triumph für ihn dargestellt werden. Inseratengeldgefütterter Boulevard wird’s gerne übernehmen.
Zumindest ebenso wichtig für den Kanzler und ÖVP-Chef ist, dass er auf politischer Ebene keine ernstzunehmenden Mitbewerber hat: Herbert Kickl (FPÖ) kommt nicht durch, Pamela Rendi-Wanger (SPÖ) ist von ihren eigenen Genossen vorgeführt worden. Das ist unbezahlbar für die Türkisen. Man könnte meinen, sie hätten es bestellt.
Es ergibt selbst in schweren Stunden ein leichtes Spiel: Wieder hat es ein Verbrechen gegeben, einmal mehr mutmaßlich begangen von Personen mit Fluchthintergrund. Und wieder deutet auch einiges auf Behördenversagen hin. Wenn sich Kurz und Co. nach dem Verbrechen jedoch „extrem wütend“ geben, zum x-ten Mal „Härte!“ rufen und verlangen, „Träumereien“ im Umgang mit Menschen aus fremden Kulturkreisen zu beenden, dann kann man sich fragen, an wen das gerichtet sein soll bzw. wer das Sagen hat in der Regierung im Allgemeinen sowie in der Asyl-, Migrations-, und Integrationspolitik im Besonderen. Antwort: Die Verantwortung tragen mehr denn je Türkise: Sie haben diesmal sogar einen Koalitionspartner, der ihnen freie Hand zugestanden hat bzw. allenfalls nur verbale Protestnoten vorträgt.
Sprich: Sollte jemand von unbegrenzten Flucht- und Migrationsbewegungen „träumen“, könnte das der ÖVP egal sein; wie schon seit mehreren Jahren könnte sie ungehindert weiter durchsetzen, was sie für richtig hält. Anders ausgedrückt: Für allfällige Missstände ist eher sie allein verantwortlich. Ihr Glück ist nur, dass es niemandem gelingt, das einer Masse deutlich zu machen. Nicht einmal SPÖ und FPÖ, die Mittelparteien in Opposition, sind dazu in der Lage.
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