ANALYSE. Am 10. März kann der Kanzler keine Wohlfühlrede an die Nation halten. Verdrängte Fragen harren der Beantwortung. Nicht zuletzt zur Sicherheit.
Vielleicht war das, was Verteidigungsministerin Klaudia Tanner (ÖVP) kurz vor der niederösterreichischen Landtagswahl bei der Präsentation der Publikation „Risikobild 2023“ zuließ, kein Versehen, sondern der Versuch, einen Kursänderungsprozess einzuleiten: Eine Ausweitung des Ukraine-Krieges stelle die größte Bedrohung dar, hieß es. Und die deutsche Sicherheitsexpertin Ulrike Franke durfte in einer Videoschaltung aus London mitteilen, dass die Neutralitätsfrage in den nächsten Jahren viel mehr aufs Parkett kommen werde.
Ob Bundeskanzler Karl Nehammer (ÖVP) das in einer groß für 10. März angekündigten Rede zur Lage der Nation aufgreifen wird, ist fraglich. Wobei: Er möchte darüber reden, wo Österreich 2030 stehen soll. Also müsste er. Andererseits will er sich „Lehren aus den Krisen“ widmen. Und die größeren sind noch nicht einmal vorbei. Außerdem hat er vor ziemlich genau einem Jahr betont, dass man neutral sei und auch bleibe, Ende der Debatte.
Der Punkt ist, dass sich Nehammer nicht mit einer klassischen, von parteitaktischen Überlegungen geprägten Ansprache begnügen kann, die in Wirklichkeit auf die kommende Nationalratswahl ausgerichtet ist. Dass er mehr zu liefern haben wird als eine Entschuldigung für die Corona-Impfpflicht, mit dem – von der „Krone“ in einer Schlagzeile unterstellten Ziel – Anhänger von den Freiheitlichen zurückzuholen.
Die Aufgabenstellung ist um ein Vielfaches schwieriger. Die Bewältigung von Vergangenem kann nur dazu dienen, sich möglichst ohne unnötigen Ballast der Zukunft zuzuwenden: Bis 2030 wird Österreich verstärkt gegen Arbeitskräftemangel vorgehen müssen; es wird schauen müssen, dass Erwerbstätige länger im Job bleiben und mehr Menschen zuwandern. Dem stehen zwei Hürden im Weg: Ein verbreiteter Hang zur (Früh-)Pensionierung und eine ebensolche Abneigung gegenüber Migration. Durch Populismus ist das eine wie das andere in den vergangenen Jahren verstärkt worden.
Wie auch die Zustimmung zur Neutralität, die nicht ungern als immerwährende Sicherheitsgarantie betrachtet wird. Wobei man niemandem böse sein sollte: Es entspricht der politischen Darstellung. Selbst nach dem Beginn des russischen Angriffskriegs in der Ukraine hat Nehammer ja jede Auseinandersetzung damit unterbunden.
Die Kursänderung, die hier fällig wird, macht einen Kraftakt wie beim EU-Beitritt nötig. Wenn man aber bedenkt, wer sich aus unterschiedlichen Gründen aller ziert oder dagegen ist, nicht nur Nehammers ÖVP, sondern auch Sozialdemokraten, Freiheitliche und Grüne, könnte man an dieser Stelle abbrechen.
Das Problem ist nicht so sehr, dass es keine Bereitschaft gibt, die Neutralität aufzugeben und der NATO beizutreten. Das Problem ist eher, dass es kein Nachdenken darüber gibt, was man mit der Neutralität noch anfangen könnte und vor allem, wie man Sicherheit nach der Zeitenwende garantieren könnte.
Vielleicht wäre es vor diesem Hintergrund vernünftig, nicht immer wieder um Neutralität und NATO zu kreisen und festzustellen, dass hier keine Änderung möglich ist, sondern über die Sicherheit zu reden: Die Masse ist nicht dumm, sie gibt sich letzten Endes keinen Illusionen hin. In der jüngsten Eurobarometer-Standardbefragung wurde etwa die Haltung zu einer „gemeinsamen Verteidigungs- und Sicherheitspolitik der EU-Mitgliedstaaten“ erhoben. In Österreich sprachen sich 33 Prozent dagegen aus. Eine deutliche Mehrheit von 61 Prozent war dafür. Gar 75 Prozent unterstützten die Forderung, die Zusammenarbeit in solchen Fragen zu verstärken. Darauf könnte man aufbauen, es zeigt, dass eine Mehrheit weiß, dass es nicht genügt, auf sich allein gestellt zu sein und sich einzubilden, auf einer Insel der Seligen zu leben.
"Neu denken" und Diskussion über die Neutralität tabuisieren geht nicht zusammen. Emanzipiert sich die Verfassungsministerin gar vom Kanzler? https://t.co/FeuOiYZQxp
— Stefan Kappacher (@KappacherS) February 21, 2023
Europaministerin Karoline Edtstadler (ÖVP) wäre bei einem solchen Prozess mögicherweise dabei: „Wir sind uns alle einig, dass seit dem 24. Februar letzten Jahres nichts so ist, wie es vorher war“, erklärte sie laut „Standard“ am Dienstag: „Wir sind uns dessen schmerzlich bewusst, dass die Sicherheitsarchitektur Österreichs, aber auch Europas neu gedacht werden muss, und wir sind da auch nachhaltig dran“. Das klingt so ganz anders als das, was der Kanzler im März 2022 erklärt hat: „Österreich war neutral, ist neutral und bleibt neutral.“ In Ermangelung einer aktiven Neutralitätspolitik lief das eher auf ein Wegducken hinaus.
Nachtrag: Noch am Dienstag erklärte Edtstadler in der ZIB, die Neutralität sei „identitätsstiftend für Österreich, das war so, und das wird so sein“. Letztlich bleibt also doch auch nach dem 24. Februar 2022 vieles so wie es bis dahin war.