Die Verrohung

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ANALYSE. Österreichische Politik fühlt sich weniger denn je Humanität und Rechtsstaatlichkeit verpflichtet. Schlimmer: Corona-Beschränkungen erschweren die Bildung einer Gegenbewegung.

Es gibt da dieses achtjährige Mädchen. Resignationssyndrom, lautet die Diagnose. Seit acht Monaten spricht sie kein Wort. „Sie malt nicht, sie geht nicht. Wenn man sie stupst, macht sie ein paar Schritte. Sonst macht sie nichts. Sie hat sich aufgegeben“, erzählt Julia Falkner.

So beginnt ein Bericht in den „Vorarlberger Nachrichten“. Eine Medizinerin schildert darin die Verhältnisse im griechischen Flüchtlingslager Kara Tepe, die sie als Vertreterin der „Ärzte ohne Grenzen“ kennengelernt hat. In der „Kronen Zeitung“ wird sie zugleich mit folgenden Worten zitiert: „Ich war auf Einsätzen im Südsudan und der früheren IS-Hochburg Mossul, aber dieser Einsatz hier ist der schlimmste.“

Der Unterschied: Kara Tepe ist Österreich näher. Nicht nur geographisch, sondern auch politisch gibt es eine größere Mitverantwortung, ja -schuld: Die Regierung weigert sich, über symbolische Hilfe hinauszugehen und auch nur ein paar Menschen aufzunehmen. Begründung von Außenminister Alexander Schallenberg (ÖVP): Das „Geschrei nach Verteilung“ könne nicht die Lösung sein.

Das ist Ausdruck einer Verrohung, die 8,9 Millionen Menschen erdulden (müssen). Nicht, dass es im Interesse aller wäre, im Gegenteil. Die Möglichkeiten, sich dagegen aufzulehnen, sind jedoch begrenzt. Ein Signal wie das Lichtermeer, das 1993 die Antwort eines beachtlichen Teils der Gesellschaft auf das „Anti-Ausländer-Volksbegehren“ der Jörg Haider-FPÖ war, ist heute schon allein aufgrund der Corona-Beschränkungen undenkbar. Dazu kommt, dass mit den Grünen ein wesentlicher Teil der Politik, die zumindest vorgibt, für Humanitäres zu stehen, neutralisiert ist: Werner Kogler und Co. sehen sich als Regierungsmitglieder außer Stande, notwendige Zeichen zu setzen. Sehr wahrscheinlich würde damit das Ende dieser Koalition einhergehen.

Türkise setzen um, wovon Blaue geredet haben. „Recht muss der Politik folgen“, etwa. Genauer: Politik schert sich nicht um Recht. ÖVP-U-Ausschuss-Vertreter Andreas Hanger antwortete diese Woche auf die Klage eines WKStA-Staatsanwaltes über „Störfeuer“ in Form von Beschwerden und dergleichen, wenn es um politisch sensible Ermittlungen geht, die etwa auch Bundeskanzler Sebastian Kurz (ÖVP) betreffen, er habe „kein Vertrauen“ in diesen Mann; dieser kritisiere nämlich alles und jeden im Justizsystem.

Das ist diese Verrohung auf einer anderen Ebene. Man ist respektlos gegenüber Vertretern staatlicher Institutionen und auch diese selbst: Ebenfalls im U-Ausschuss berichtete eine Mitarbeitern des Finanzministeriums von Gernot Blümel (ÖVP), dass sie geforderte und vom Verfassungsgerichtshof eingemahnte Unterlagen im März vorbereitet habe, von Blümels Kabinett jedoch aufgefordert worden sei, „abzuwarten“.

Das würde zweierlei bedeuten: Im Wissen, dass der U-Ausschuss im Sommer zu Ende ist, wurde bewusst auf Zeit gespielt. Das ist eine Provokation sowie eine Behinderung der politischen Aufklärung durch das Parlament, also die Volksvertretung. Außerdem wurde der Verfassungsgerichtshof hingehalten und gezwungen, Bundespräsident Alexander Van der Bellen den bekannten Exekutionsauftrag zu erteilen. Vielleicht hat Blümel nicht damit gerechnet, dass die Höchstrichter so weit gehen würden. Das ist jedoch nebensächlich. Entscheidend ist, dass er die Sache ausgereizt hat bzw. seiner Pflicht erst unter Androhung von Zwangsgewalt nachgekommen ist.

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