Auf österreichischem Boden

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ANALYSE. Auch im Lichte der Destabilisierung Russlands betreibt Karl Nehammer lieber Innen- als Sicherheitspolitik.

Paul Krisai, ORF-Russland-Korrespondent, versteht’s nicht: „Kann mir jemand erklären, was damit gemeint ist?“, will er auf Twitter wissen. Die Botschaft, die dem österreichischen Bundeskanzler am Tag nach dem gescheiterten Aufstand von Jewgeni Prigoschins Söldnertruppe Wagner in Russland so wichtig war, dass er sie in sozialen Medien verbreiten ließ, lautete: „Wir lassen nicht zu, dass eine innerrussische Angelegenheit auf österreichischem Boden ausgetragen wird.“ Wirklich seltsam. Krisai schrieb dazu: „Vielleicht krieg ich’s in Moskau gerade nicht mit, dass da irgendwas Innerrussisches auf ö. Boden ausgetragen wird? Ich versteh’s ehrlich nicht.“

Man kann es nicht verstehen, wenn man nicht zur Kenntnis nimmt, worum es geht: Innenpolitik. Nach Beginn des russischen Angriffskrieges gegen die Ukraine hat Karl Nehammer nur kurz versucht, Außen- und Sicherheitspolitik zu machen. Er hat die Neutralität infrage gestellt und unter anderem Wladimir Putin besucht. Bald hat er derlei sein lassen. Heute macht er nur noch Innenpolitik.

Die Neutralität ist heilig. Aber nur (!), weil sie für eine deutliche Mehrheit der Wählerinnen und Wähler heilig ist. Und bei der Destabilisierung Russlands tut Nehammer so, als sei sie für Österreich nur insofern relevant, als es auch auf österreichischem Boden zu Konflikten kommen könnte. Das ist absurd. Was Nehammer wohl wissen wird. Er möchte jedoch die Illusion pflegen, dass man sich die Insel der Seligen erhalten könne. Passiere „draußen in der Welt“, was wolle. Wer hört das nicht gerne? Gut möglich, dass es sich um eine Masse handelt.

All das führt vor Augen, dass sich Österreich seit Februar 2022 nicht mit Notwendigen auseinandersetzt. Natürlich, Karl Nehammer und Vizekanzler Werner Kogler (Grüne) haben heuer im Frühjahr spät, aber doch angekündigt, eine neue Sicherheitsstrategie zu entwickeln. Ihre Vorgaben gehen jedoch am Thema vorbei: Wichtig ist ihnen, dass an der Neutralität nicht gerüttelt wird und dass man sich als Mittler in Kriegen und Konflikten anbietet.

Das ist schön und gut. Das Problem, das sich stellt, ist jedoch folgendes: Was ist, wenn Russland außer Kontrolle gerät? Diese Frage hat man sich in den Stunden, als die Wagner-Truppen auf Moskau zurollten, immer wieder stellen müssen. Was fängt man dann mit der Neutralität und einer Vermittlerrolle, die von Moskau ohnehin schon nicht angenommen wird, an?

Man könnte sich einige Meter sparen, wenn man die Auseinandersetzung von einem anderen Ende her angeht. Ausgehend nämlich von der Beistandsklausel im EU-Vertrag: Im Falle eines bewaffneten Angriffs auf ein Mitgliedsland sind die übrigen Länder verpflichtet, ihn zu unterstützen.

Das „Wie“ wird zwar offengelassen. Es wird jedoch nicht möglich sein, zum Beispiel nicht einmal Entminungsdienste anzubieten, weil man ja als Neutraler keine Soldaten in ein Kriegsgebiet entsenden dürfe, wie nicht nur Nehammer behauptet hat. Getan hat es in der Samstagsausgabe des „Standard“ auch der neue SPÖ-Klubobmann Philip Kucher.

Soll heißen: Der Kanzler ist mit seiner Realitätsverweigerung nicht allein. Nicht nur er macht es sich viel zu einfach. Neben einer FPÖ, die die vermeintliche Insel der Seligen auch noch zu einer Festung ausbauen würde, um besagte Illusion zu stärken, lässt auch die potenzielle Kanzlerpartei SPÖ aus. Den Beweis, dass auf Pamela Rendi-Wagner keine dürftigere Außen- und Sicherheitspolitik folgen könne, ist ihr Nachfolger Andreas Babler mit seinem Team jedenfalls noch schuldig.

Diesbezüglich wird er noch liefern müssen. Auch im eigenen Interesse: Seit dem vorerst gescheiterten Aufstand in Russland kann man weniger denn je ausschließen, dass Sicherheit zu einem größeren Thema als Soziales wird bei kommenden Wahlen. Und im Hinblick darauf könnte Nehammers, aber auch Kickls Zugang der Realitätsverweigerung, der einer Illusion dient, durchaus populär sein. So populär wie jener zu Asyl und Migration, bei dem sich die SPÖ ebenfalls schwer tut, zu kontern.

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