ANALYSE. Im Umgang mit Tirol wäre Sebastian Kurz doppelt gefordert, Führungsqualitäten zu zeigen. Bemerkenswerterweise unterlässt er es jedoch. Das ist ein Hinweis auf die wahren Machtverhältnisse.
„Nach Ischgl schaut halb Europa auf Tirol, aber das Land irrlichtert politisch vor sich hin.“ Das schreibt keine Nicht-Tiroler Tageszeitung, sondern die Tiroler Tageszeitung in einem Leitartikel. Vernichtende Urteile bekommen darin fast alle ab, die Grünen, die sich „wie ein Fahndl im Wind“ drehen würden, genauso, wie „dahinsiechende“ Rote und „unbeholfene“ Pinke, vor allem aber auch die Schwarz/Türkisen: Landeshauptmann Günter Platter (ÖVP) sei die Kontrolle entglitten, er zeige Führungsschwäche. Eine klare Haltung schaue jedenfalls anders aus, etwa auch in Bezug auf den „schwer angeschlagenen“ Gesundheitslandesrat Bernhard Tilg (ÖVP). Was wohl nur so verstanden werden kann, dass der Mann abgelöst werden müsste, der in einem legendären ZIB2-Inteview im März immer und immer wieder betont hat, dass man in Ischgl und St. Anton alles richtig gemacht habe.
Das Fass zum Überlaufen gebracht hat nun freilich dies: All die Tiroler Landespolitiker reden seit Wochen von einer unabhängigen (!) Untersuchungskommission, die sich der Verfälle annehmen soll; der Umstände, warum man in Ischgl nach ersten Infektionsfällen offenbar bemüht war, das zu tun, was ÖVP-Wirtschaftsbundobmann und -Nationalratsabgeordneter Franz Hörl empfohlen hat, nämlich Gras über die Sache wachsen zu lassen – mit bekannten Folgen, nämlich einer beschleunigten Ausbreitung des Virus in ganz Europa.
Doch zurück zu dieser Kommission: Der ehemalige Richter Josef Geisler soll sie leiten. Unverzeihlicher Schönheitsfehler: Bei der Landtagswahl gehörte er dem Personenkomitee für Günther Platter an. Was die Sache auf den Punkt bringt: In Tirol besteht kein glaubwürdiges Bemühen um Aufklärung.
Das schadet ganz Österreich. Wie das Coronavirus im Allgemeinen steht Ischgl im Besondern für eine Katastrophe, die nicht nur gesundheitlich, sondern auch wirtschaftlich extrem großen Schaden anrichtet. Nicht zuletzt auch für den Tourismus.
Womit wir auf einer übergeordneten Ebene angelangt wären: So entschlossen und konsequent Bundeskanzler und ÖVP-Chef Sebastian Kurz bei der Bekämpfung der Pandemie bisweilen auftritt und sich ganz generell auch in Regierungs- und Parteiangelegenheit gibt, so zurückhaltend ist er hier.
Das ist bemerkenswert. Zumal er doppelt gefordert wäre: In der Sache wird allzu oft übersehen, dass Platter nicht nur Landeskaiser, sondern auch Teil der mittelbaren Bundesverwaltung ist. Kurz ist Chef der Bundesregierung und könnte als solcher zumindest informell seinen Beitrag dazu leisten, dass Platter tut, was er tun hat.
Natürlich, praktisch schafft ein Vertreter des Bundes einem Landeshauptmann nichts an. Das ist auf gut Österreichisch undenkbar. Andererseits: Indem sich Kurz dem beugt, zeigt er, dass er sich in Wirklichkeit auch alten Machtverhältnissen unterwirft. Und dass alles andere nur Inszenierung ist.
So ähnlich ist es in der ÖVP: Kurz ist Bundesobmann mit Durchgriffsrechten und dergleichen. In Zeiten wie diesen muss man sich jedoch fragen, wozu: In Tirol richten vor allem auch Vertreter der Volkspartei ziemlich großen Schaden an. Aus Wien haben sie jedoch nicht einmal ein lautes Worte zu befürchten.
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