Über Neuwahlen sollte man sich nicht wundern

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ANALYSE. … gerade weil sich die ÖVP ganz Sebastian Kurz ausgeliefert hat, er keine Hemmungen kennt und trotz allem noch immer gute Aussichten hat.

Man sollte sich nicht wundern, was alles geht in Österreich 2021: Ein Bundeskanzler, gegen den Anklage erhoben wird und der trotzdem bleiben will, ist praktisch genauso wenig ausgeschlossen wie ein Spitzenpolitiker, der verurteilt wird, aber mir nichts, dir nichts weitermachen möchte.

Aus den Reihen der ÖVP wird Sebastian Kurz kaum verabschiedet werden. Weniger, weil sich der Steirer Hermann Schützenhöfer im Namen aller Landeshauptleute, von Markus Wallner bis Johanna Mikl-Leitner, an der „Sebastian Kurz ist ausschließlich Oppositionsopfer“-Erzählung bzw. an der damit einhergehenden Diskreditierung der staatsanwaltlichen Ermittlungen beteiligt, sondern mehr, weil die Bundesparteiorganisation ohne Sebastian Kurz nicht mehr wäre. 2017 ist sie ihm ganz übertragen worden, er hat sie allein auf sich ausgerichtet, von der Lichtenfelsgasse (Parteizentrale) bis zur Tivoligasse (Parteiakademie) ist alles trükis geworden. Wie bei einem Ein-Personen-Unternehmen ist das. Anders ausgedrückt: Wenn Kurz eines Tages nicht mehr ist, muss diese Organisation neu aufgebaut werden, neues Personal inklusive.

Gehen wir also davon aus, dass Kurz bleibt. Nicht zu ihm passen würde, dass er sich den Entwicklungen hingibt. Eher wird er mit seinen Leuten alle denkbaren Szenarien immer wieder neu durchspielen, um Herr des Geschehens bleiben zu können, so gut es eben geht. Natürlich werden auch Neuwahlszenarien dazugehören.

Man kann nicht einmal ausschließen, dass es Kurz jetzt erst recht auf einen Urnengang ankommen lässt; im Gegenteil. Die Umfragewerte sind bei weitem nicht mehr so gut wie vor einem Jahr. Laut aktueller „profil“-Erhebung liegt die ÖVP aber noch immer so weit vorne gegenüber allen Mitbewerberinnen und Mitbewerbern wie der 34-Jährige selbst in der Kanzlerfrage.

Die SPÖ spielt nicht mit, hat offenbar auch nicht die Absicht, es zu tun: Vorsitzende Pamela Rendi-Wagner hat einen Auftritt bei Fellners Minisender oe24 ausgerechnet am Tag der Sondersitzung des Nationalrats zur Causa Kurz einem solchen auf der Polithauptbühne ZIB2 vorgezogen. So wird sie nie eine Gegenbewegung anführen können. Außerdem macht die SPÖ keine Anstalten, Wähler zurückzuholen, die sie an ÖVP, aber auch FPÖ verloren hat in den vergangenen Jahren. Die Folge: Kurz hat weiterhin nur eine Konkurrentin und das ist die FPÖ. Er muss nur möglichst viele Wähler halten, die er ihr 2017 und 2019 abgenommen hat – und schon hat er gewonnen.

Die Aussichten für Kurz sind nicht nur schlecht: So stellte der regierungskritische „Standard“ Ende April in einem Kommentar ausdrücklich fest, die Regierung habe die dritte Welle der Pandemie „gut gemeistert“. Diese Überzeugung könnte sich mit jeder Lockerung verfestigen. Die Stimmung steigt.

Und die Causa Kurz? Sie wird von Kurz selbst im Sinne einer Flucht nach vorne in Richtung jener „Jetzt erst recht“-Mobilisierung getrieben. Das sollte man nicht unterschätzen: Mit Hilfe einer Mitte-Rechts-Mehrheit, die es in Österreich noch immer gibt, könnte sich damit sehr viel machen lassen. Motto: „Von Linken lassen wir den Kanzler nicht stürzen.“ Vergleich dazu auch die Botschaften in Folge der Kurz-Abwahl durch den Nationalrat im Frühjahr 2019.

„Wer Neuwahlen ausruft, wird bestraft“, lautet ein ungeschriebenes, vermeintliches Gesetz. Als Belege dafür gelten Wolfgang Schüssel 1995 und Wilhelm Molterer 2008. Molterer sagte „Es reicht!“, vergaß aber, dass er nicht einmal von einer relativen Mehrheit der Wählerinnen und Wähler als Alternative betrachtet wird. Schüssel wiederum wollte durch Sparpakete populär werden. Beide haben vor allem auch von daher verloren.

Der Gegenbeweis, dass ein Neuwahlenausrufen zum Erfolg führen kann, ist Sebastian Kurz: 2017 und 2019 hat er es geschafft, einen Urnengang alternativlos erscheinen zu lassen. Das muss sich nicht wiederholen, kann sich aber wiederholen: Kurz wäre es zum Beispiel ein Leichtes, die Grünen zum Absprung zu treiben.

Wenn der Kanzler im Falle einer Anklage bleibt, ist das nahe. Wenn er ungehemmt weiter auf die Justiz losgeht ebenso, wie wenn er Innenminister Karl Nehammer medienöffentlich noch mehr Familien mit Kindern abschieben lässt. Oder wenn er bei der Ökologisierung des Steuersystems in den kommenden Monaten einen nicht unpopulären Weg nimmt, also eine CO2-„Bepreisung“ verweigert. Dann könnten Werner Kogler und Co. mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit nicht mehr, dann wird zumindest zu vielen Leuten aus grünen Reihen der Kragen platzen.

Und nach allfälligen Neuwahlen? Das Argument, dass dann niemand mehr mit Kurz koalieren wolle, ist das denkbar schlechteste. Die Verlockungen, die mit einer Regierungsbeteiligung einhergehen, sind groß. 2019 hat sich Norbert Hofer trotz aller Demütigungen um eine Fortsetzung der Zusammenarbeit bemüht. Um einen Partner muss sich Kurz keinen Kopf machen, so lange er Wahlen gewinnt.

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