ÖVP dreht sich selbst ab

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ANALYSE. Durch ihre Reaktionen auf die Pilnacek-Aussagen machen Nehammer und Co. alles nur noch schlimmer. Sofern es überhaupt noch möglich ist.

Im Sinne der Sacharbeit habe er die Koalition bisher nicht beendet. Aber jetzt müsse er sagen: „Genug ist genug.“ Auch wenn die Methoden, „die an Silberstein erinnern“, verachtenswert seien: „Der Inhalt ist, wie er ist“, sagte der damalige Bundeskanzler und ÖVP-Chef Sebastian Kurz nach Veröffentlichung des Ibiza-Videos im Mai 2019.

Heute redet die ÖVP-Spitze, die Kurz zu ihrem eigenen Unglück in allen wesentlichen Zügen verbunden geblieben ist, lieber nur über Methoden und dergleichen: Dass Aussagen des langjährigen Justizspitzenbeamten Christian Pilnacek in einem Wiener Restaurant ohne dessen Wissen, offenbar von eine Nebentisch aus, aufgenommen worden sind; und dass die Aufnahmen jetzt, nach seinem Ableben im Oktober, veröffentlicht worden sind, das ist laut Karl Nehammer eine unsägliche Störung der Totenruhe. Laut Christian Stocker, dem Generalsekretär der Volkspartei, ist es demokratiegefährdend, ja den Rechtsstaat zersetzend.

Über den Inhalt wollen beide kaum ein Wort verlieren. Er ist für sie nicht, wie er ist, sondern eher gar nicht. Nur so viel: In einem parlamentarischen Untersuchungsausschuss habe Pilnacek unter Wahrheitspflicht ausgesagt, dass es keine Interventionen gegeben habe. Das ist der zentrale Inhalt, der so vom Tisch gewischt werden soll: In dem italienischen Restaurant „Il Cavalluccio“ in der Wiener Göttweihergasse hat Pilnacek Ende Juli behauptet, dass ihn ÖVP-Vertreter in der Vergangenheit aufgefordert hätten, staatsanwaltschaftliche Ermittlungen abzudrehen. Namentlich nannte er Nationalratspräsident Wolfgang Sobotka.

Doch Nehammer und Stocker wollen der Öffentlichkeit eben weismachen, dass das nicht korrekt sein kann, weil Pilnacek im U-Ausschuss Interventionen ausgeschlossen habe. Dumm nur: In den Protokollen ist nachzulesen, dass er mehrmals auf eigene Angaben angesprochen wurde, wonach er nie politischen Druck weitergegeben habe. Ob er politisch unter Druck gesetzt wurde bzw. von wem ein solcher Druck ausgegangen sei, wollte er jedoch nicht ausführen.

Zusammenfassung zwischendurch: Die ÖVP erweist sich gleich zweimal selbst einen Bärendienst. Einmal, indem sie sich im Widerspruch zum Kurz-Vorgehen nach dem Ibiza-Video weigert, sich ernsthaft auf einer inhaltlichen Ebene zu bewegen und stattdessen nur so tut, als wäre es eine Pietätlosigkeit, schwerwiegenden Vorwürfen nachzugehen, bei denen es um echte Demokratiegefährdung und Rechtsstaatzersetzung geht. Und einmal, indem sie versucht, von der inhaltliche Dimension des Ganzen mit einer Falschdarstellung dessen abzulenken, was Pilnacek im U-Ausschuss gesagt hat.

Der Partei ist nicht mehr zu helfen. Und das ist schlimm. Warum wundert man sich nicht über das, was Christian Pilnacek in dem Restaurant behauptet hat, ohne zu wissen, ob es stimmt? Weil es nicht unvorstellbar ist. Weil Leute wie Nehammer und Sobotka ein massives Glaubwürdigkeitsproblem haben.

Einschub: Bei der Erhebung zum jüngsten APA/OGM-Index erklärten 57 Prozent der befragten Österreicher:innen, Nehammer und 71 Prozent, Sobotka zu misstrauen. Mehr als beim Nationalratspräsidenten waren es bei keinem anderen Politiker.

Noch einmal: Warum wundert man sich nicht? Vielleicht auch deswegen: Sebastian Kurz, dessen türkiser Anstrich und dessen Ausrichtung der gegenwärtige Kanzler und ÖVP-Chef übernommen hat, tritt schon lange gegen die Wirtschafts- und Korruptionsstaatsanwaltschaft (WKStA) auf. In einem Hintergrundgespräch soll er sie einmal als Netzwerk roter Staatsanwälte bezeichnet haben. Nehammers Kanzleramt weigerte sich wiederum monatelang, der WKStA gewünschte Akten zu übermitteln. Da kann man sich über kaum noch etwas wundern, kann die ÖVP nicht davon ausgehen, dass ihr noch von einer breiten Mehrheit das Vertrauen entgegengebracht wird, das sie als mächtige Regierungspartei nötig hätte; gerade in Zeiten, in denen sie mit schwerwiegenden Vorwürfen konfrontiert ist. Da fällt ihr alles auf den Kopf.

Jetzt ist die Gefahr groß, dass es zu spät ist. Nämlich zu spät dafür, dass die ÖVP tut, was sie unmittelbar nach dem Abgang von Sebastian Kurz vor zwei Jahren hätte machen müssen: einen Strich ziehen und sich um eine Neuaufstellung bemühen. Es ist müßig, darüber zu spekulieren, warum sie es unterlassen hat. Eine nachvollziehbare Erklärung aber ist, dass andere Leute als Nehammer oder etwa auch Karoline Edtstadler dafür nötig gewesen wären, die zum Beispiel mit ihrem Zitierverbot aus Akten noch heute nichts anderes im Sinn hat, als Kurz zu dienen.

Jetzt geht es sich schon rein zeitlich nicht mehr aus, eine solide Kraft der bürgerlichen Mitte zu bilden und sich so bei der EU-Wahl im Juni und der Nationalratswahl im September um eine Masse zu bemühen, die zwischen der FPÖ von Herbert Kickl und der SPÖ von Andreas Babler zu haben sein könnte. Das ist keine Geschichte, die sich von heute auf morgen machen lässt. Man kann nicht in wenigen Monaten frisches Personal rekrutieren, begeisterungsfähige Ideen für Österreich formulieren und erfolgreich zwei Wahlkämpfe schlagen.

Die türkise Volkspartei droht mit Nehammer stattdessen unbeholfen in der Defensive und, sagen wir, bei rund 20 Prozent zu bleiben. Wobei klar ist, worauf das hinauslaufen könnte: einen Kanzler Kickl. Zumal all die türkisen Ankündigungen, nicht mit dem ehemaligen Innenminister zusammenzuarbeiten, nicht einmal nichts bewirkt haben bisher. Die FPÖ bleibt stabil über 30 Prozent, Kickl führt gar schon in der Kanzlerfrage.

Ein Sicherheitsrisiko sei er, sagen Nehammer und Co. immer wieder und verweisen gerne auf die Zerschlagung des Verfassungsschutzes, die Kickl 2018 betrieb. Schon richtig. Nur: Zur damaligen Hausdurchsuchung, die der heutige FPÖ-Chef ebendort erwirkt hatte, stellte Nehammer als seinerzeitiger Generalsekretär in einer eigenen Presseausendung ausdrücklich „klar“: „Das Vorgehen von Innenminister Herbert Kickl war selbstverständlich mit der neuen Volkspartei abgestimmt und akkordiert. Die Volkspartei übt daher hier keine Kritik am Innenminister.“ Auch dafür zahlen sie heute – Nehammer und die ÖVP.

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