Kipppunkte

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ANALYSE. Vielsagende Wahlergebnisse in Deutschland und der Schweiz, eine österreichische Regierung, die keine Antworten hat und ein Ex-Kanzler, der Staatsgewalten mit Unterstützung der ÖVP so offen wie noch nie angreift.

Nach den jüngsten Landtagswahlen in Deutschland (Bayern, Hessen) war hier von einer Krise der Linken die Rede. Sozialdemokraten und Grüne hatten verloren. Summa summarum hat sich das bei der Nationalratswahl in der Schweiz nun fortgesetzt. Gewinnerin ist die nationalkonservative, rechtspopulistische SVP. Sie hat wieder zugelegt und ist ihrem Rekordergebnis von 2015 nahgekommen, das sie damals mitten in der Flüchtlingskrise erreicht hat. Der öffentlich-rechtliche SRF schreibt dazu: „Erklären lässt sich der Großerfolg mit der Themenlage. Die Zuwanderung ist auf dem Sorgenbarometer im Verlauf des Wahljahres nach oben geklettert, befeuert von hohen Asylzahlen, einer hitzigen Migrationsdebatte in ganz Europa und zuletzt wohl auch den Unsicherheiten nach der Eskalation in Nahost.“

In Österreich mag in absehbarer Zeit nicht gewählt werden, gibt es aber einen verschärften Trend in die gleiche Richtung. Die FPÖ mit Herbert Kickl liegt über ihren Spitzenwerten aus den Jahren 2015/16. Und sie ruht sich nicht aus. Der Nationalrat befasst sich auf ihren Antrag hin in einer Sondersitzung mit einer erhöhten islamistischen Terrorgefahr, die laut Kickl nur eine logische Folge einer „Tür-auf-Politik“ für illegale Masseneinwanderung sei.

Die Regierung hat keine Antwort darauf. Alles Inszenieren bringt nichts. Im Gegenteil, es macht vieles nur noch schlimmer. Unlängst hat Verteidigungsministerin Klaudia Tanner (ÖVP) vor einem Transportflugzeug eine Pressekonferenz zur Rückholung von Menschen aus Israel gegeben. Die „Herkules“-Maschine konnte aufgrund eines technischen Problems dann aber nicht abheben. Vergangene Woche hat Tanner auf einer Pressekonferenz mit Innenminister Gerhard Karner (ÖVP) die zweithöchste Terrorwarnstufe ausgerufen. Wenig später wurde bekannt, dass ausgerechnet die Hauptsynagoge von Wien, der Stadttempel, zu diesem Zeitpunkt noch nicht rund um die Uhr bewacht worden ist: Es gelang Antisemiten in einer folgenden Nacht, die israelische Fahne herunterzureißen.

Das ist ein Akt, der ausgerechnet dem rechten Kickl nützt: Gegen mutmaßlich islamischen Antisemitismus kann er sich stellen. Weil ihm ein solcher hilft, eine Erzählung zu bestätigen, wonach die Migrationspolitik aus dem Ruder gelaufen sei. Eine wahrnehmbare Gegenerzählung existiert nicht. Die SPÖ ist nach wie vor auf eine Kampagne für eine „Millionärssteuer“ fokussiert. Und die ÖVP liefert durch ihre Regierungsmitglieder (unfreiwillig) Erwähntes.

Sebastian Kurz, ihr „Ex“, hat es 2017 unter nicht unähnlichen Umständen geschafft, an die Parteispitze zu gelangen. In der ÖVP hatte man damals geglaubt, sich nur mit seiner Hilfe gegen Sozialdemokraten und Freiheitliche behaupten zu können. Heute sind die Vorbehalte groß gegenüber dem 37-Jährigen. In einer Auseinandersetzung mit Kickl könnte er aber noch immer weniger schlecht abschneiden als Karl Nehammer, glauben Leute wie Wolfgang Schüssel, Andreas Khol und andere, die nach wie vor sehr viel von ihm halten.

Fakt ist: Auch der Partei ist Kurz nach wie vor wichtig. Sie zahlt ihm die Verteidigung im Prozess wegen mutmaßlicher Falschaussage vor einem parlamentarischen Untersuchungsausschuss und sie nimmt in Aussendungen wie dieser eine solche gerne auch selbst vor. Wobei es ihr darum geht, der Wirtschafts- und Korruptionsstaatsanwaltschaft (WKStA) zu unterstellen, „nicht sauber“ zu arbeiten, also Kurz zum Opfer zu erklären, ganz egal, wie der Prozess ausgeht.

Das muss man sich einmal vorstellen: Eine Regierungspartei springt so mit einer Staatsgewalt um. Sie gibt dem, was Kurz macht, ein größeres Gewicht. Nach dem Tod von Christian Pilnacek hat Kurz in einem Schreiben nicht nur seine Betroffenheit zum Ausdruck gebracht, sondern dessen Schicksal mit seinem eigenen verglichen. Zitat: „Obwohl wir uns in Österreich gerne damit rühmen, ein entwickelter Rechtsstaat zu sein, der die Menschenrechte hochhält, werden manche so behandelt, als lebten wir im Mittelalter, wo Menschen an den Pranger gestellt und öffentlich gedemütigt werden“, wie die „Krone“ mit dem Hinweis berichtet, dass der Ex-Kanzler sich selbst von der WKStA, die er schon einmal als „rotes Netzwerk“ verunglimpft habe, verfolgt und vorverurteilt sehe.

Nach dieser, von der ÖVP eben gestützten Darstellung, kann Kurz nicht verlieren. Er steht immer auf der Seite des Guten. Die WKStA ist das Übel. Wie das Parlament: Am zweiten Prozesstag behauptete er, „gewusst“ zu haben, dass die Opposition im Untersuchungsausschuss nicht nur das Ziel gehabt habe, ihn „anzupatzen“, sondern ihn zu „zerstören“.

Wenn der ehemalige Kanzler und die ihm nach wie vor ergebene Volkspartei das ernst meinen, dann bringen sie zum Ausdruck, nur zwei Möglichkeiten zu sehen: Sie können beim Parlamentarismus nicht mehr mitmachen; oder ist meinen, dass gegen die Opposition vorzugehen ist. Beides wären logische Konsequenzen aus der Unterstellung, SPÖ, FPÖ und Neos würden eine Politik der verbrannten Erde betreiben und einen Kanzler, der ihnen missfällig, schlicht vernichten wollen.

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