Kerns zweite Chance

ANALYSE. Die Österreicher sind so zuversichtlich wie schon lange nicht mehr. Antieuropäisches, Intoleranz und Rückzug stehen in einem gewissen Widerspruch dazu. 

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ANALYSE. Die Österreicher sind so zuversichtlich wie schon lange nicht mehr. Antieuropäisches, Intoleranz und Rückzug stehen in einem gewissen Widerspruch dazu.

Ja, man kann ruhig in aller Deutlichkeit feststellen, dass Österreich traumatisiert ist: Die Flüchtlingskrise hat den Glauben an einen Staat, der für Sicherheit und Ordnung sorgt, massiv erschüttert. Die politische Antwort blieb nicht aus; im Gegenteil, mehr denn je haben die FPÖ von Heinz-Christian Strache und in weiterer Folge auch die ÖVP von Sebastian Kurz Begriffe wie „Festung Europa“ bewusst strapaziert, um so indirekt das erschütterte Vertrauen in weiten Kreisen der Bevölkerung anzusprechen – und letzten Endes eben auch bei der Nationalratswahl zu gewinnen.

Kurz und Strache sind bereits maximal erfolgreich – und das begrenzt Ludwigs Aussichten.

Die SPÖ hat daneben natürlich nervös werden müssen. Sie hat ja auch das Kanzleramt verloren. Wie soll sie nun aber darauf reagieren: Dem schwarz-blauen Beispiel folgen? Wiens Parteichef und designierter Bürgermeister Michael Ludwig bemüht sich darum. Das Risiko ist groß: Kurz und Strache sind bereits maximal erfolgreich – und das begrenzt Ludwigs Aussichten.

Bundesparteichef Christian Kern ist bei seinem Versuch, ein Gegenprogramm zu entwickeln, im Nationalratswahlkampf über weite Strecken gescheitert. Zu sprunghaft war er, zu sehr hat er wohl auch eigene Anhänger mit Zwischendurch-Slogans wie „Ich hol‘ mir, was mir zusteht“ irritiert.

Solche Maßnahmen stehen auch für Antieuropäisches, Intoleranz und Rückzug.

Doch Kern könnte eine zweite Chance bekommen; die vermeintliche Stärke der schwarz-blauen Koalition kann ihm indirekt helfen, wenn er erstens einen eigenen Kurs findet und zweitens auch hält. Zum Problem könnte ÖVP und FPÖ längerfristig werden, dass sie zu sehr auf Integrations- und damit einhergehend auch Symbolpolitik beschränkt sind. Anders ausgedrückt: Der ungarische Ministerpräsident Viktor Orbán mag etwa als Vorbild gelten, wenn es darum geht, die Grenzen dicht zu machen und Fremde zu vergrämen. Dazu passende Maßnahmen, wie die Kürzung der Familienbeihilfe für EU-Mitbürger, ein Kopftuchverbot für Kindergartenmädchen und Grenzkontrollen stehen aber auch für Antieuropäisches, Intoleranz und Rückzug. 

Und ob das einer Mehrheit der Österreicher auf Dauer gefällt, ist fraglich: In Ausnahmezeiten wie (zumindest) zuletzt, ist das möglich. Darüber hinaus ist das jedoch ungewiss. Es könnte eher sogar zu einer Gegenbewegung führen, die mit der Warnung vor einer gewissen „Orbanisierung“ zum Beispiel wächst.

Noch nie haben die Österreichier die wirtschaftliche Entwicklung so zuversichtlich beurteilt. 

Und überhaupt: Die Flüchtlingskrise hat das Land und seine Bürger schwer getroffen. Das hat sich auch im Spectra-Wirtschaftsbarometer bemerkbar gemacht, bei dem es um die Einschätzung der wirtschaftlichen Entwicklung geht. 2015/2016 war der Pessimismus ähnlich groß wie in der Wirtschaftskrise 2007/2008. Zuversicht gab es kaum noch. Mittlerweile ist die Stimmung jedoch gekippt. Und wie: Zuletzt hat das Meinungsforschungsinstitut so viel Zuversicht und so wenig Pessimismus festgestellt, wie noch nie bei den Erhebungen seit Anfang der 1990er Jahre: 35 Prozent meinen, es gehe aufwärts, 15 Prozent sagen, es gehe abwärts. Vor zwei, drei Jahren war es umgekehrt (der Anteil derer, die daneben weder das eine noch das andere erklären, ist traditionell groß).

Das ist eine Herausforderung für die Kurz und Strache und eine Chance für Kern: Er bekommt zumindest noch einmal eine Möglichkeit, ein politisches Angebot abseits von Flüchtlingen und Integration zu formulieren. Auf der Mai-Kundgebung auf dem Wiener Rathausplatz hat er ganz offensichtlich einen ersten Versuch dazu unternommen, indem er „seine“ Sozialdemokratie zur Hüterin einer liberalen Gesellschaft gegenüber einer rechtspopulistischen Politik erklärte.

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