Ein Jahr nach Kurz

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ANALYSE. Am 9. Oktober 2021 ist der damalige Kanzler zurückgetreten: Seine Partei, die ÖVP, überlässt sich bis heute ihrem Schicksal – und erspart sich damit auch Zerreißproben.

Fehler eingestehen oder um Entschuldigung bitten, ist bis zuletzt nicht gegangen: Am 9. Oktober 2021, nachdem unter anderem diverse Chats bekanntgeworden waren, erklärte Sebastian Kurz seinen Rücktritt als Bundeskanzler. „Die Vorwürfe sind falsch und ich werde sie auch aufklären können“, betonte er: „Davon bin ich zutiefst überzeugt.“ Sein Rücktritt sollte denn auch nicht als Eingeständnis gesehen werden. Es sollte sich vielmehr um einen Akt der Selbstaufopferung handeln: „Es geht nicht um mich, es geht um Österreich“, so Kurz: Die Menschen hätten es nicht verdient, dass sich Politik mit sich selbst – bzw. mit ihm – beschäftigt.

Die ÖVP stürzte in weiterer Folge in eine tiefe Krise – in Umfragen und auch bei der ersten Landtagswahl seither, nämlich jener in Tirol vor zwei Wochen. Wobei sie schon ein sehr gutes Beispiel dafür ist, wie relativ das alles ist: Es setzte zwar einen massiven Verlust von fast zehn Prozentpunkten, geht aus Sicht der Partei aber ganz passabel weiter: Gemeinsam mit einem neuen Koalitionspartner, nämlich der SPÖ, könnte es sogar noch gemütlicher werden als es mit den Grünen bisher gewesen ist.

Und zwar ohne, dass sich die ÖVP groß ändern muss. Auf Bundesebene tut sie es gar nicht. Geändert haben sich Stil und Möglichkeiten der Akteure. Karl Nehammer ist nicht Sebastian Kurz. Auch er bemüht sich aber, Asyl auf der Agenda zu halten; oder die Wirtschafts- und Korruptionsstaatsanwaltschaft anschießen und den parlamentarischen U-Ausschuss in seiner Tätigkeit behindern zu lassen.

Die ÖVP habe kein Korruptionsproblem, sagt Nehammer und beweist damit ebenfalls null Einsicht. Er baut sogar vor für das eine oder andere, was kommen könnte: Sollte die Partei unter seiner Verantwortung als Generalsekretär 2019 gegen das Parteiengesetz verstoßen haben, würde er nicht zurücktreten, hat er im ORF-Sommergespräch bereits wissen lassen.

Vorgebliche Konsequenzen, die es gegeben hat und die sich abzeichnen, sind zu einem erheblichen Teil Nebelgranaten: Bei der Parteienfinanzierung bleiben Umgehungsmöglichkeiten über Vereine und Zeitungen. Bei den Inseraten sind keine Begrenzungen vorgesehen. Bei einem größeren Volumen soll es lediglich nötig werden, nähere Angaben zu Motiven und Wirkung zu machen – darüber zu urteilen will man letztlich aber der öffentlichen Meinung überlassen. Kein Witz, ein Hohn.

Die ÖVP ist eine Überlebenskünstlerin: Von der Papierform her hätte sie sich nach Kurz auf Bundesebene auflösen müssen; immerhin hatte sie sich ganz ihm überlassen. Aber es geht eben weiter.

Zunächst hilft dabei, dass sie sich keinem schmerzlichen Veränderungsprozess aussetzt; dass sie nicht darüber nachdenkt, wie und mit wem sie den vielen Wählern ein überzeugendes Angebot machen könnte, die Sebastian Kurz insbesondere den Freiheitlichen abgenommen hat; oder wie und mit wem sie eine neue Zielgruppe ansprechen könnte. Damit erspart sie sich Zerreißproben.

Ihr Glück ist außerdem, dass auf Bundesebene nicht gewählt wird: Sie ist noch immer die 37,5 Prozent-Partei, die sie unter Kurz geworden ist; sie hat entsprechend viele Nationalratsabgeordnete und stellt auch die meisten Regierungsmitglieder. Das könnte noch zwei Jahre lang so bleiben. Und dann schaut die Welt vielleicht schon wieder anders aus – steht sie selbst unter Umständen nicht besser da, geht es SPÖ und FPÖ möglicherweise aber schlechter.

Ja, der Außendruck, der durch all die Krisen entsteht, lässt nach sozialdemokratischem Liebäugeln mit einer Ampel sogar eine Große Koalition infolge der nächsten Nationalratswahl immer wahrscheinlicher werden: Die Grünen müssen immer auch Klimaschutz betreiben, selbst bei ohnehin stark steigenden Spritpreisen eine CO2-Bepreisung durchsetzen. Das ist ihr Anspruch. Dieser Anspruch geht bei der SPÖ aber immer weniger durch. Dort hat Klimaschutz jetzt Pause. Mit der ÖVP kann die SPÖ das durchziehen. Das wäre auch für die Volkspartei nicht ganz übel: Soll ihr Schlimmeres passieren als nach den Kurz-Jahren als Juniorpartnerin in einer anderen Regierung wieder aufzuwachen. Das wäre eine milde Buße.

Kritisch sind für die ÖVP in absehbarer Zeit allenfalls Landtagswahlen. Wie hier ausgeführt, schaut es für Mikl-Leitner in Niederösterreich aber auch nicht so schlecht aus.

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