ANALYSE. These: Bei allem, was Sebastian Kurz macht, hat er potenzielle FPÖ-Wähler im Auge. Gerade auch in der Impfstoff-Sache, bei der es gegen „die EU“ geht.
Man kann sich wundern darüber, wie sich Bundeskanzler und ÖVP-Chef Sebastian Kurz gerade verhalten hat in der Impfstoff-Sache: Zumal offensichtlich ist, dass es hier auch sehr viel österreichisches Versagen gegeben hat. Und zumal Kurz ja immer wieder selbst mitgemischt und damit auch Verantwortung übernommen hat. Da ist es zu billig, so zu tun, als hätte er alles richtig und ausschließlich die EU alles falsch gemacht.
Es wäre jedoch zu einfach, das alles nur mit Panik und Ich-Bezogenheit in der Hinsicht zu erklären, dass es Kurz ausschließlich um sich selbst geht (auch wenn das Auswirkungen auf die Koalition hat, wie hier ausgeführt). Das würde bedeuten, den 34-Jährigen zu unterschätzen.
Man sollte sich auch die Frage stellen, warum Kurz und seine Volkspartei laut Umfragen noch immer unangefochten vorne liegen sowohl in der Kanzler- als auch in der Sonntagsfrage. Natürlich gibt es sinkende Werte. Aber wo in Europa gibt es das nach einem Jahr Coronakrise und vielem, was damit einhergeht, nicht?
In Österreich gibt es weiterhin eine türkis-blaue Mehrheit. Trotz Ibiza und eben trotz Corona bzw. diesem Krisenmanagement. These: Das hat vor allem auch damit zu tun, dass Kurz immer potenzielle FPÖ-Anhänger im Auge hat. Das muss er: 2017 und 2019 hat er Freiheitlichen (und BZÖ) insgesamt fast eine halbe Million Wählerinnen und Wähler abgenommen. Sie muss er bei Laune halten, sonst ist er verloren.
Was die entscheidende Fragestellung, die Flüchtlings- und Migrationspolitik betrifft, ist Sebastian Kurz bis heute sehr wirkungsvoll in dieser Disziplin: Über Innenminister Karl Nehammer (ÖVP) lässt er keine Gnade walten. Schlimmer: Proteste helfen ihm sogar, sich gegenüber seiner Klientel als wirklich Gnadenloser zu profilieren. Damit punktet er bei denen, die ihm wichtig sind.
In der Impfstoff-Sache kann gegenüber dieser Klientel kein Vorwurf zu billig sein, der an der Adresse der EU gerichtet ist. Das sind diese Leute gewöhnt. Jörg Haider hat einst behauptet, dass mit einer Mitgliedschaft bei der Union „Blutschokolade“ und „Schildlausjoghurt“ in die heimischen Supermärkte gelangen würden. Hier geht es möglicherweise nicht einmal darum, ob das stimmen könnte oder nicht, es bestätigt in jedem Fall ein denkbar schlechtes Bild von der EU. Darum geht es.
Sebastian Kurz arbeitet damit. Im EU-Wahlkampf 2019, der eigentlich schon ein Nationalratswahlkampf war, drängte er auf eine Neuverhandlung der EU-Verträge und eine Rückgabe von Kompetenzen an die Mitgliedstaaten: „Kein Mensch braucht EU-Vorgaben etwa für die Zubereitung von Schnitzel und Pommes.“
Die EU eignet sich gegenüber dieser Klientel hervorragend für eine Sündenbockpolitik, zumal sie so aufgebaut ist, dass sie nie schnell und wirkungsvoll darauf antworten kann. Da lässt sich allerhand verfestigen. Eben auch in der größten Krise.
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