Nicht nur die Wiener Zeitung stirbt

-

ANALYSE. Grüne haben eine türkise Erzählung übernommen und riskieren ein weiteres Mal, Anhänger zu verlieren.

Auch etwas, was 320 Jahre alt ist, muss abgerissen oder eingestellt werden können – wenn man nach reiflicher Überlegung zum Schluss kommt, dass es keinen Wert mehr hat. Bei der Wiener Zeitung, die am 8. August 320 Jahre alt geworden wäre, handelt es um einen unverzeihlichen Akt: Österreich hat jeden Qualitätsjournalismus nötig. Wichtiger als die Zahl seiner Leserinnen und Leser ist, dass er Beiträge leisten kann, die für Demokratie, Gesellschaft und Kultur relevant sind. Die Wiener Zeitung hat das getan.

Jetzt, am 30. Juni 2023, erscheint sie ein letztes Mal. „Sie wissen ganz genau, dass es nicht möglich ist, einfach zu sagen, eine einzelne Zeitung im Land kriegt 20 Millionen“, sagte Grünen-Klubobfrau Sigrid Maurer Dienstagabend in der ZIB2. Tatsächlich? Für die „Kronen Zeitung“ allein wird – inklusive Website und anderen Angeboten – auf der Datenseite medien-transparenz.at ein Volumen öffentlicher Inserate von 20,2 Millionen Euro ausgewiesen; in einem einzigen Jahr (2022). Natürlich gab es dabei auch einen Werbewert. Man weiß aber auch, dass derartige Mittel in Österreich allzu viel Politwillkür unterworfen sind.

Bei der Wiener Zeitung hat diese Willkür entschieden, es brauche das Produkt nicht mehr. Es genüge, es mit weniger Leuten und ohne bisherigem Redaktionsstatut, also unterer stärkerer Kontrolle des Bundeskanzlers, irgendwie digital weiterzubetreiben. Neben einer staatlichen Journalismusausbildung in derselben Gesellschaft. Was alles zum Ausdruck bringt: Medien werden geringgeschätzt, verachtet.

Unabhängig davon möchte man das finanzielle Argument ernst nehmen. Das aber wird schwer bis unmöglich gemacht, wenn der Wert, der mit der Wiener Zeitung einhergeht, von Leuten wie Medienministerin Susanne Raab (ÖVP) eben nicht einmal ignoriert wird. Und wenn es ihr Maurer genauso wie ihre Mediensprecherin Eva Blimlinger gleichtut.

Das ist insofern beachtlich, als man unter diesen Umständen nicht mehr weiß, wo eine Grenze ist: Wird morgen der teure Geschichtsunterricht an den Schulen eingestellt, weil er kaum jemandem einen Job bringt? Folgt übermorgen ein Theater, weil es nur von – sagen wir – einem Prozent der örtlichen Bevölkerung regelmäßig besucht wird? Man kann es nicht mehr wissen. Ausgerechnet jene, die so gerne von Werten reden, sind unberechenbar.

Überraschend ist, dass hier die Grünen die türkise Erzählung übernommen haben: Sie sagen „zu teuer“ und aus. Sie, die eher eine Wählerschaft hatten bisher, die Zeitung liest, erklären nicht einmal, dass das eine verhängnisvolle Seite des Koalitionsgedankens „Das Beste aus beiden Welten“ sei; dass sie sich also dummerweise darauf eingelassen haben, Dinge mitzutragen, die sie ablehnen.

Es ist eine Kapitulation, die die Grünen weitere Anhänger kosten könnte. Nachdem sie schon infolge der Abschiebung von Kindern, die in Österreich aufgewachsen sind, nicht wenige enttäuscht haben, die sich erwartet hätten, dass sie sich da um jeden Preis auf die Barrikaden begeben.

Die Fortsetzung der Koalition ist Werner Kogler und Co. schon in diesem Fall wichtiger gewesen. Damit ist es ihnen möglich geworden, z.B. die Einführung einer CO2-Besteuerung und des Klimatickets sowie Aufklärung durch die Wirtschafts- und Korruptionsstaatsanwaltschaft zu garantieren. Einerseits. Andererseits haben sie dafür Dinge hingenommen, die schwer wiegen. So ist das Schicksal eines Kindes, dessen „Pech“ Eltern sind, die nach Österreich geflüchtet sind, unter ihrer Mitverantwortung genauso ungewiss geworden, wie das einer Zeitung, die relevant ist.

dieSubstanz.at ist ausschließlich mit Ihrer Unterstützung möglich. Unterstützen Sie dieSubstanz.at gerade jetzt >

dieSubstanz.at – als Newsletter, regelmäßig, gratis

* erforderliche Angabe


Könnte Sie auch interessieren

GDPR Cookie Consent mit Real Cookie Banner