ANALYSE. Was in anderen Bereichen funktionieren mag, ist hier zum Scheitern verurteilt. Aus verhängnisvollen Gründen steuert Österreich planlos auf einen weiteren Höhepunkt der Gesundheitskrise zu.
Wenn es in Österreich eine größere Verantwortungskultur geben würde und auch das gesprochene Wort ernst genommen würde, müssten einige Herren nervös werden: Gesundheitsminister Wolfgang Mückstein (Grüne), der im Sommer trotz niedriger Impfquote die Jungen ermunterte, sich ins Nachtleben zu stürzen („Jetzt seid ihr dran“); oder der möglicherweise nur pausierende Kanzler Sebastian Kurz (ÖVP), der schon vor eineinhalb Jahren behauptete, die gesundheitlichen Folgen der Pandemie seien überstanden, ja später seine Partei sogar verlauten ließ, dass man sie „gemeistert“ habe. Heute ist nicht einmal mehr ein Lockdown für Geimpfte so ausgeschlossen, wie es der amtierende Regierungschef Alexander Schallenberg (ÖVP) Ende Oktober getan hat.
Frei nach seinen Worten, die wiederum vom Tiroler Landeshauptmann Günther Platter (ÖVP) stammen, könnte man jetzt einwenden, es sei immer leichter, ein Buch von hinten zu lesen. Soll heißen: Niemand konnte wissen, dass es noch einmal so ernst werden würde, dass ein Mediziner nach dem anderen empfiehlt, zu einem neuerlichen Lockdown zu schreiten.
Dafür, dass die Pandemie schon vor Monaten „gemeistert“ wurde, sind die neuen Maßnahmen dann doch eher harsch. pic.twitter.com/c8cFQq2Xet
— Armin Wolf (@ArminWolf) November 5, 2021
Das Problem, das die Politik sich selbst und ganz Österreich beschert hat, ist, dass sie gar nicht wissen wollte, wie sich das Buch entwickeln könnte. „Man hat im Sommer schon gesehen, dass die Impfrate nicht hoch genug ist, um einen Anstieg der Infektionen zu verhindern. Deshalb sind wir leider in dieses Worst Case Szenario geraten“, erklärte die Virologin Monika Redlberger-Fritz in der ZiB2 vom 7. November. Genauer: Das Prognosekonsortium, das sogar für das Gesundheitsministerium tätig wäre, hatte am 7. Juli in einer Risikobewertung inkl. Szenarien und Handlungsanleitungen darauf hingewiesen, dass es bei einer Durchimpfungsrate von weniger als 70 Prozent kritisch werden könnte. „Alle umsetzbaren Maßnahmen zur Steigerung der Impfbereitschaft sollten“ daher „möglichst rasch (falls möglich noch im Juli) ergriffen werden“. Zumindest Mückstein hätte Druck dafür aufbauen müssen, anstatt „Fröhliches Nachtleben“ zu wünschen. Stand 7. November beträgt die Durchimpfungsrate 64,6 Prozent.
Offenbar aber glaubte auch der Minister an die Vorstellung, dass die Pandemie vorbei ist, wenn man sagt, dass sie vorbei ist. Genau das ist Teil der verhängnisvollen Entwicklung: „Message Control“ versteht es, verbreitete Wahrnehmungen zu beeinflussen. Im Moment bemüht sie sich darum, den Eindruck zu erwecken, dass die ÖVP-Affäre um Kurz lediglich eine Erfindung „linker Zellen“ in der Wirtschafts- und Korruptionsstaatsanwaltschaft sei. In den vergangenen Monaten arbeitete sie an Pandemie-ist-überstanden-Geschichten. Das konnte nicht gutgehen.
Die Pandemie folgt keinem Wunschdenken, keinen Spin-Doktoren und auch keinen politisch motivierten Darstellungen. Es müsste vielmehr umgekehrt sein und das vor allem auch auf Basis einer Strategie.
Wenig überraschend gibt es keine solche. Tourismusministerin Elisabeth Köstinger (ÖVP) sagte vor wenigen Tagen, „oberstes Ziel“ sei es, dass die heurige Wintersaison stattfinden könne. Das war irritierend. Bisher galt es eher, eine Überlastung der Spitäler zu verhindern. Die Aussage war jedoch eine Offenbarung: Politik richtet sich Ziele und Fakten, wie es ihr gefällt. Einmal ist die Inzidenz bestätigter Infektionen entscheidend, dann die Zahl der Intensivpatienten und schließlich wieder die Inzidenz (zumindest vorübergehend für die gerade wieder aufgehobenen Ausreisekontrollen).
Auch andere Länder befinden sich noch in der Pandemie, nicht überall aber herrscht ein solcher Umgang mit ihr. In der Schweiz hatten Bund und Kantone für den vergangenen Winter einen Strategieplan entwickelt, wonach erstens Schulen und zweitens Lifte sowie Hotels offenbleiben sollten; beides wurde durchgezogen. Heuer haben die Eidgenossen wieder mögliche Entwicklungen skizziert, die bis hin zu einer weiteren Welle und Maßnahmen reichen könnten, die nicht nur ungeimpfte, sondern ausdrücklich „auch genesene und geimpfte Personen ohne Auffrischungsimpfung betreffen würden“. dieSubstanz.at hat hier am 23. August darüber berichtet. Der Titel, gemünzt auf Österreich, war naiv: „Wo ist der Plan?“, lautet er. Weil die Pandemie erledigt sein sollte, konnte es keinen geben.
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