Risikokanzler

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ANALYSE. Mehr noch als die Pandemie entwickelt sich Sebastian Kurz zu einer demokratischen Zumutung.

Der Ausspruch der deutschen Kanzlerin Angela Merkel (CDU), wonach die Pandemie eine demokratische Zumutung ist, wird in die Geschichtsbücher eingehen. Zum einen, weil hier Grund- und Freiheitsrechte beschnitten worden sind, wie sich das zuvor kaum ein Mensch hätte vorstellen können; zum anderen aber eben auch, weil Merkel zumindest ein Problembewusstsein signalisierte – und auch insofern unterstrich, als sie zu Kritik ermunterte. Wenigstens das!

In Österreich dagegen? Bundeskanzler Sebastian Kurz (ÖVP) zeigte ein einziges Mal die Spur einer Ahnung, dass hier etwas „ungut“ läuft: Ende August nämlich, als er in der Rede, in der er ein Licht am Ende des Tunnels ortete, ein „Philosophicum“ ankündigte, um darüber zu reden. Wobei man nicht einmal sagen konnte, ob das ernst gemeint war. „Philosophieren“ könnte für einen Laien ja auch bedeuten, in lockerer Runde ein bisschen herumzugeistern und sich am nächsten Tagen nicht mehr dran erinnern können.

Alles in allem entwickelt sich Sebastian Kurz zur größeren Zumutung für Demokratie und Rechtsstaat als das Virus. Zumal er aus Fehltritten nicht lernt; sodass man unterstellen muss, dass er sie sehr gezielt setzt. Sie erinnern sich: Beim ersten Lockdown wies Kurz Kritik an zweifelhaften Verordnungstexten, die für sehr viele Unternehmen (inkl. EPU) und ihre Beschäftigen schicksalsträchtig waren, mit den Worten zurück, man solle sie nicht überinterpretieren. Zumal sich der Verfassungsgerichtshof ohnehin noch damit auseinandersetzen werde; allerdings erst – ätsch, bätsch – zu einem Zeitpunkt, zu dem sie nicht mehr in Kraft sein werden. Das war eine Kampfansage an jegliche Rechtskultur; sie war so dreist, dass sie nicht einmal mit den außerordentlichen Umständen zu rechtfertigen war.

Zumindest ebenso schlimm: Ganz Österreich befindet sich nach wie vor in eine schwierigen Lage. Doch Sebastian Kurz agiert nicht rot-weiß-rot, sondern weiterhin ausschließlich türkis. Was insofern verwundert, als der Vorfall, der dazu vor ein, zwei Wochen bekannt geworden ist, ja eigentlich zu peinlich gewesen ist. Sie erinnern sich: Dass SPÖ-geführte Bundesländer nicht gleich wie ÖVP-geführte vorab bzw. rechtzeitig über neue Beschränkungen informiert wurden, wurde auf dieSubstanz.at mit „Parteipolitisch bis zum Untergang“ zusammengefasst.

Bei den Vorbereitungen auf den – rechtlich wie wirtschaftlich und gesellschaftlich – dramatischen Lockdown 2 ist es nun jedoch genau wieder so gelaufen. Wenn in der Pandemie gerne das Bild verwendet wird, wonach wir alle in einem Boot sitzen würden, dann muss man das wegen Sebastian Kurz dahingehend abwandeln: Der Kanzler meint für sich und seine Leute bessere Plätze sichern zu müssen, um sich und seinesgleichen eher retten zu können. Rote, Grüne, Blaue, Pinke und vor allem auch parteifreie dürfen untergehen.

Es kommt noch schlimmer: Die Tageszeitung „Der Standard“ veröffentlichte ein Protokoll von einer Besprechung mit Landeshauptleuten am vergangenen Samstag. Die Sozialdemokraten Michael Ludwig und Hans Peter Doskozil beschwerten sich über die Benachteiligungen bei Informationsweitergaben. Zur Antwort von Kurz schreibt die Zeitung, er habe Gesundheitsminister Rudolf Anschober (Grüne) „angeschmiert“; es sei natürlich möglich, dass Informationen übers Gesundheitsministeriums geleakt würden. Sprich: Kurz steht nicht einmal zu dem, was er so treiben lässt.

Genug? Nein. Am Wochenende twitterte der Kanzler, dass die verkündeten Maßnahmen für niemanden leicht sein: „Aber nicht nur wir handeln so, sondern fast alle anderen Länder auch. Egal ob Demokratien od. Diktaturen. Denn dies ist die einzige Option, die man als Regierung hat: Die Bevölkerung und das Gesundheitssystem schützen.“ Die große, nicht angreifbare Alternativlosigkeit also, gespickt mit der Botschaft zwischen den Zeilen, dass „wir“ alles richtig machen, zumal es ja ausschließlich auf ein höheres Ziel, die Volksgesundheit ausgerichtet sei. Das ist, was es ist: Die Ausrufung eines Ausnahmezustandes bzw. nicht nur eine Zumutung für die Demokratie, sondern eher der Versuch, sie auszuhebeln.

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