ANALYSE. Der Umgang mit dem Ukraine-Krieg und den bisherigen Folgen zeugt von Verantwortungslosigkeit und mangelnder Solidarität. In sicherheitspolitischen Fragen genauso wie bei der Aufnahme von Geflüchteten.
Österreich kann weiterhin so tun, als wäre es neutral, als müsse es sich der Frage eines NATO-Beitritts genauso wenig stellen wie der Schaffung einer europäischen Armee. Das ist der Stand der Dinge, wie er nicht zuletzt von Bundeskanzler Karl Nehammer (ÖVP) dargestellt wird. „Praktisch das Ganze“, könnte man sagen. Oder verantwortungslos, feig oder was auch immer.
Eine europäische Armee sieht Nehammer „derzeit“ nicht, wie er in einer ORF-Pressestunde vor zwei Wochen berichtete. Auf die Idee, Vorschläge dafür zu machen, ist er bis heute nicht gekommen. Die Neutralitätsdebatte, die er selbst mit dem Hinweis verstärkt hatte, dass dieser Status Österreich einst von den sowjetischen Kommunisten „aufgezwungen“ worden sei, erklärte er selbst umgehend für beendet.
So einfach ist das jedoch nicht: Im Unterschied zur Schweiz hat Österreich nichts gegen Überflüge einzuwenden, bei denen es um westliche Waffenlieferungen an die Ukraine geht. „Da loten wir unsere Neutralität schon ziemlich aus“, stellte der Völkerrechtler Ralph Janik gegenüber der „Kleinen Zeitung“ fest. Immerhin handelt es sich bei den Lieferungen um die Unterstützung einer kriegsführenden Partei.
Auf dem EU-Gipfel vergangene Woche stimmte Österreich einer Verdoppelung der Militärhilfe für die Ukraine auf eine Milliarden Euro – aufgrund seiner Neutralität – zwar nicht zu, machte einen solchen Schritt aber durch eine „konstruktive Enthaltung“ möglich. Sie wird von der Republik gewissermaßen also wohlwollend geduldet.
Auf diesem Gipfel wurde auch eine „Erklärung von Versailles“ verabschiedet. Sie zeigt, dass die Mitgliedsstaaten in Verteidigungsfragen nur bedingt zusammenrücken. Sie bekennen sich dazu, die Militärausgaben „deutlich zu erhöhen“. Gegenseitiger Beistand bleibt im Sinne von Artikel 42, Absatz 7 des EU-Vertrages jedoch begrenzt: „Im Falle eines bewaffneten Angriffs auf das Hoheitsgebiet eines Mitgliedstaats schulden die anderen Mitgliedstaaten ihm alle in ihrer Macht stehende Hilfe und Unterstützung, im Einklang mit Artikel 51 der Charta der Vereinten Nationen. Dies lässt den besonderen Charakter der Sicherheits- und Verteidigungspolitik bestimmter Mitgliedstaaten unberührt.“ Letzteres ermöglicht es Staaten wie Österreich, unter Verweis auf die Neutralität auszuscheren, wenn’s ernst wird und nicht gefällt.
Derlei wäre ernsthaft zu diskutieren: Man könnte es als Qualität sehen, sich durch andere Staaten nicht automatisch in einen Krieg hineinziehen lassen zu müssen und eben weiterhin eine aktive Neutralitätspolitik betreiben zu können. Bloß: Eine solche Politik wird von Österreich eben nicht betrieben. Das Angebot von Karl Nehammer, als Gastgeber für Friedensverhandlungen im Ukraine-Krieg bereitzustehen, wurde in der Welt draußen nicht einmal ignoriert. Weitere Versuche, einen Beitrag zur Konfliktbeilegung zu leisten, sind nicht überliefert.
Doch wozu sich daüber den Kopf zerbrechen. Die Tageszeitung „Der Standard“ fasste Aussagen des Kanzlers in einem aktuellen Interview folgendermaßen zusammen: Jene EU-Staaten, die zugleich der NATO angehören, hätten auf dem Gipfel deutlich gemacht, dass die Neutralen und Bündnisfreien wegen der EU-Beistandspflicht indirekt auch vom Transatlantischen Verteidigungsbündnis geschützt werden. Das ist die alte Denke: Man kann sich zurücklehnen, ist man doch ohnehin von NATO-Staaten umgeben. Das ist unsere Absicherung.
Man schwindelt sich einfach weiter durch. Dazu passen Behauptungen, Österreich habe sich dafür eingesetzt, dass der Oligarch Olek Deripaska von einer EU-Sanktionsliste gestrichen wird. Der Mann ist unter anderem am Baukonzern Strabag beteiligt. Offizielle Dementis dazu könnten überzeugender sein, wie Stefan Kappacher hier dokumentiert.
Oder die Flüchtlingspolitik, die diesmal von Nehammer geschickt als Nachbarschaftshilfe dargestellt wird. Hier könnte man Solidarität gegenüber der Ukraine bzw. Menschen üben, die das Land verlassen müssen. Allein: Man gibt es mehr vor als dass man es tut. Es ist beschämend, dass Länder wie Polen um europäische Solidarität in dem Sinne bitten müssen, dass ihnen Geflüchtete abgenommen werden. Österreich würde das gut anstehen, wenn es in sicherheits- und verteidigungspolitischen Fragen schon so sehr aus der Verantwortung drückt.
Laut UNHCR gab es am Wochenende bereits 2,7 Millionen Geflüchtete aus der Ukraine. 1,7 Millionen befinden sich in Polen. Das entspricht dort 44 pro 1000 Einwohner. In der Republik Moldau sind es mit 40 kaum weniger gemessen an der Bevölkerung, in der Slowakei handelt es sich um 36, in Ungarn um 25.
Für Österreich liegen noch immer keine genaueren Angaben vor. Berichten zufolge sind bisher rund 100.000 ins Land gekommen. Drei Viertel würden jedoch weiterreisen. Damit wären gut 25.000 geblieben, was etwa drei pro 1000 Einwohner entspricht: Das ist ein eklatantes Missverhältnis gerade auch gegenüber wirtschaftlich schwächeren Staaten in Osteuropa – das durch die nunmehrige Ankündigung, 2000 Menschen aus Moldau zu übernehmen, kaum besser wird.
dieSubstanz.at spricht Sie an? Unterstützen Sie dieSubstanz.at >