Vergesst Neuwahlen

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ANALYSE. Es geht nicht so sehr um Umfragewerte, sondern darum, dass jetzt auch noch eine Wirtschaftskrise droht und ÖVP, SPÖ, Grünen und Neos (unter anderem) eine Perspektive fehlt.

Sogar Qualitätszeitungen spekulieren darüber, ob nicht erst im Herbst 2024, sondern schon davor die nächste Nationalratswahl stattfindet. Abgesehen davon, dass es immer wichtig ist, alles Mögliche zu bedenken, ist derlei zum gegenwärtigen Zeitpunkt jedoch müßig: Notwendig für Neuwahlen (bzw. eine Neuwahl) wäre eine parlamentarische Mehrheit. Und eine solche gibt es nicht. Im Gegenteil: Fraktionen, die summa summarum fast 85 Prozent der Abgeordneten stellen, haben gute Gründe, abzuwarten; die ÖVP, die SPÖ, die Grünen und die Neos.

Diese Gründe sind zahlreich. Erstens: Die Regierungsparteien sind mit einer schlechten Stimmungslage konfrontiert. Insofern nämlich, als eine Krise auf die andere folgt und passable Zeiten nicht in Sicht sind. Die Teuerung wird sehr wahrscheinlich zwar weiter zurückgehen, aber vergleichsweise stark bleiben. Dem nicht genug, beginnt sich die Wirtschaftslage einzutrüben, ist eine Rezession möglich. Unter solchen Umständen müsste jede Regierung froh sein, wenn nicht so bald gewählt wird.

Zweitens: Die ÖVP steht einigermaßen orientierungslos da. Zumal Karl Nehammer keinen klaren Kurs zusammenbringt, drängen nicht zuletzt Ländervertreter immer stärker in unterschiedliche Richtungen. Richtung Mitte (z.B. Anton Mattle) oder nach rechts (z.B. Johanna Mikl-Leitner). Das erschwert jede Kampagne.

Drittens: ÖVP und Grüne müssen mit einer Wahlniederlage rechnen. Die ÖVP, weil sie von den 37,5 Prozent ausgeht, die sie unter Sebastian Kurz 2019 erreicht hat. Und die Grünen, weil sie durch ihre Reaktionen auf die Abschiebung Minderjähriger sowie ihre Mitwirkung an der Einstellung der „Wiener Zeitung“ z.B. einen Teil ihrer Anhängerschaft enttäuscht haben.

Viertens: Die SPÖ ist mit Andreas Babler gerade erst dabei, sich um eine Neuaufstellung zu bemühen. Das Ergebnis ist offen.

Fünftens: ÖVP, SPÖ, Grünen und Neos fehlt eine Perspektive: Die Volkspartei muss befürchten, nach dem nächsten Urnengang das Kanzleramt zu verlieren. Die SPÖ würde im besten Fall knapp vor der ÖVP landen und es mit dieser zu einer ebensolchen Mehrheit bringen. Ob es dann zu einer Koalition kommen würde, steht in den Sternen. Grüne stehen davor, in die Opposition wechseln zu müssen, Neos werden eher dort bleiben.

Das sind Perspektiven aus heutiger Sicht. Und natürlich muss man berücksichtigen, dass die EU-Wahl im Juni und die Landtagswahlen in der Steiermark und in Vorarlberg spätestens im Herbst 2024 Ereignisse sind, die bei strategischen Überlegungen eine Rolle spielen. Für die noch führende Volkspartei geht es dabei sogar ein bisschen um Pest oder Cholera: Schon vor der EU-Wahl bei einer Nationalratswahl verlieren, oder riskieren, dass sie zuerst bei der EU-Wahl abstürzt und das einen Negativtrend für sie verstärkt, der zu einer noch größeren Niederlage bei der Nationalratswahl im Herbst führt?

Dieses Szenario ist sogar so offensichtlich, dass es gute Gründe geben würde, sich einem solchen Schicksal nicht zu ergeben, sondern in die Offensive zu gehen, alle, also auch die Freiheitlichen mit ihrem Volkskanzlerkandidaten Herbert Kickl zu überraschen und es auf sehr baldige Neuwahlen anzulegen. Dem stehen jedoch die erwähnten Gründe eins bis vier im Weg. Nehammer ist weit davon entfernt, ein weithin anerkannter Regierungschef zu sein, der auf ein Momentum setzen könnte, das zu seinen Gunsten ist. Babler muss überhaupt erst ankommen in der Bundespolitik. Abgesehen davon würde er sich schwertun, die nötige Mehrheit für einen Neuwahlbeschluss zusammenzubringen.

Wenn es zu Neuwahlen vor Herbst 2024 kommt, dann eher ohne Plan. Aufgrund irgendeines Betriebsunfalls in der Koalition oder einer Affäre, die wie die Ibiza-Affäre 2019 buchstäblich aus dem Nichts kommt. Ansonsten bleibt’s beim regulären Termin.

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