ANALYSE. In der Debatte über eine Kürzung der Versicherungsleitung schwingen böse Unterstellungen mit, die von der Wirklichkeit weit entfernt sind.
Die Meldung, dass die ÖVP das Arbeitslosengeld kürzen möchte, ist wieder da. Und zwar unter Berufung auf ein Papier der Partei, dem offenbar aber auch nicht viel mehr zu entnehmen ist als dem „Österreich-Plan“ ihres Obmanns, Kanzler Karl Nehammer. Darin heißt es: „Degressives, zeitabhängiges Arbeitslosengeld mit einem Absinken der Ersatzrate von aktuell 55 Prozent auf unter 50 Prozent.“ Wobei der Halbsatz, der dem hinzugefügt ist, eine böse Unterstellung enthält. Er lautet: „Damit wir Menschen schnell wieder in Beschäftigung bringen und Arbeit und Leistung wieder in den Vordergrund gestellt werden.“ Das heißt im Umkehrschluss: Bei Arbeitslosen stehen Beschäftigungs- und Leistungsbereitschaft im Hintergrund. Lieber Hängematte und so.
Mit solchen Aussagen muss man vorsichtig sein. Auch wenn es „nur“ darum geht, politische Stimmungen zu bedienen. Der Punkt ist, dass es um Menschen geht und dass es starke Hinweise auf eine ganz andere Regel gibt, die in der Realität herrscht (was Ausnahmen nicht ausschließt).
Wertet man zum Beispiel aktuelle AMS-Daten zu Arbeitslosen nach Alter und Vormerkdauer aus, zeigt sich dies: 60 Prozent sind höchsten drei, fast 80 Prozent höchstens sechs Monate ohne Job. Sprich: Die meisten sind es vorübergehend. Vor allem Jüngere.
Langzeitarbeitslosigkeit ist ein Phänomen, das eher Ältere betrifft. Sind insgesamt rund zehn Prozent der Arbeitslosen mehr als zwölf Monate beim AMS vorgemerkt, handelt es sich in der Gruppe der ab 60-Jährigen um drei Mal so viele, also rund 30 Prozent.
Wollen die Älteren nicht arbeiten? Ist es notwendig, ihnen das Arbeitslosgengeld zu kürzen, damit sie sich mehr anstrengen? Diese Fragestellungen sind in dieser Form zynisch. Es gibt viele Gründe, beim AMS zu landen. Nur eine Minderheit tut es freiwillig in dem Sinne, dass die Betroffenen selbst gekündigt haben.
Zweiten: Gerade für Ältere ist es schwieriger, aus der Arbeitslosigkeit wieder herauszufinden. Auch dafür gibt es viele Gründe. Auf einen solchen weist das AMS auf Basis einer aktuellen Untersuchung hin: „Bei 12% der Bewerbungen kommt es zu einer Ungleichbehandlung aufgrund des Alters. Bei 7% der Bewerbungen findet eine Ungleichbehandlung aufgrund von Langzeitarbeitslosigkeit statt. Höheres Alter und Langzeitarbeitslosigkeit führen zu einer geringeren Wahrscheinlichkeit, zu einem Erstgespräch eingeladen zu werden. Kumuliert wird der Effekt stärker.“
Im Übrigen: Wie hier berichtet, hat Österreich zumindest zu Beginn der Arbeitslosigkeit eine sehr niedrige Nettoersatzrate. Das bedeutet, dass es gemessen am Letzteinkommen mit 55 Prozent besonders wenig gibt. Nach zwei Jahren, wenn anstelle des Arbeitslosgengeldes längst die Notstandshilfe gewährt wird, handelt es sich im Unterschied dazu um vergleichsweise viel. Wobei das relativ ist: Bei Frauen etwa beträgt das Arbeitslosengeld im Schnitt gerade einmal 34,80 Euro pro Tag und die Notstandshilfe keine 30 Euro (28,10 Euro). Beides liegt weit unter der Armutsgefährdungsschwelle.
Natürlich: Es mag Leute geben, die damit zurechtkommen und arbeitslos bleiben wollen. Den meisten aber geht es nicht gut: Bei Langzeitarbeitslosen ist gut jeder zweite Armuts- oder Ausgrenzungsgefährdet, bei Arbeitslosen insgesamt ist die Lebenszufriedenheit und der subjektive Gesundheitszustand deutlich schlechter als in der Gesamtbevölkerung.
Was heißt das? Es ist kein Plädoyer gegen jegliche Veränderungen im System. Vielleicht aber wäre es einer Regierungspartei wie der ÖVP möglich, evidenzbasiert zu agieren. Zumindest ein bisschen. Auch auf die Gefahr hin, dass es Stammtischniveau übersteigt und etwas anderes herauskommt als man sich vorstellt.