ANALYSE. Eine Mehrheit der Österreicher:innen ist für die Neutralität, aber auch dafür, die Ukraine im Kampf gegen Russland zu unterstützen. Ein Widerspruch, der nicht irgendwoher kommt.
Ungefähr 70 Prozent der Österreicherinnen und Österreicher sprechen sich regelmäßig dafür aus, die Neutralität beizubehalten. Also hat es sich eingebürgert, dass Politikerinnen und Politiker im Zweifelsfall so tun, als sei das unbestritten, während sie die Republik in Wirklichkeit aber immer weiter davon entfernen. Das ist in jedem Fall übel. Auch wenn man meint, dass diese Entfernung notwendig sei. Es wird sich rächen. Herbert Kickl (FPÖ) wartet darauf.
Seit Tagen trommeln Bundeskanzler Karl Nehammer, Außenminister Alexander Schallenberg und Verteidigungsministerin Klaudia Tanner (alle ÖVP), man werde auch nach einer Beteiligung am Raketenabwehrsystem „Sky Shield“ unbestritten neutral bleiben. Grüne scheinen sich da nicht so sicher zu sein. Sie schweigen lieber.
Besonders kreative Köpfe meinen, bei dem System handle sich nicht einmal um eine Raketenabwehr, sondern bloß um einen Schutzschirm. Als würde es sich um eine Glasglocke handeln, die undurchdringbar ist. Darauf läuft es de facto hinaus, wenn alles funktioniert. Gewährleistet wird das jedoch, indem Raketen mit Raketen abgeschossen werden.
Das mit der Neutralität ist nicht ganz so einfach und daran ändert auch die Tatsache nichts, dass jetzt sogar die Schweiz angekündigt hat, bei „Sky Shield“ mitzuwirken. Wie der Verfassungsexperte Walter Obwexer in der „Kleinen Zeitung“ betont, wird es darauf ankommen, dass das Kommando über Raketen in Österreich bleibt. Sonst geht sich das nicht aus.
Das Beispiel zeigt, dass es immer schwieriger wird, Reden und Tun in Bezug auf die Neutralität in Einklang zu bringen. Es geht eben eher nur darum, einen Schein zu wahren. Im geltenden (!) Programm der ÖVP geht man ganz offen überhaupt auf größtmögliche Distanz dazu. Zitat: „Wir schätzen Europa als Garanten für Frieden, Stabilität und Sicherheit. Wir haben ein hohes Interesse an stabilen und sicheren Verhältnissen nicht nur bei unseren unmittelbaren Nachbarn, sondern auch in weiter entfernten Ländern. Die Europäische Union spielt dabei eine entscheidende Rolle. Eine zentrale Zukunftsfrage stellt daher die Weiterentwicklung hin zu einer Verteidigungsunion mit dem langfristigen Ziel einer gemeinsamen europäischen Armee dar.“ Von Neutralität ist im Programm keine Rede. Der Begriff kommt kein einziges Mal vor darin (genauso wenig wie „neutral“ und dergleichen).
Wie Nehammer trotzdem sagen kann, dass Österreich nicht nur in der Vergangenheit neutral gewesen sei, sondern es auch in Zukunft bleiben werde, ist ein Rätsel. Doch wie gesagt: Relevant ist aus seiner Sicht, dass es die Bevölkerung glaubt. Das steht über dem eigenen Grundsatzprogramm.
Und die Bevölkerung glaubt es. Einerseits. Andererseits scheint die diffuse Politik auch auf sie abzufärben. Zwar sind eben mehr als zwei Drittel für die Beibehaltung der Neutralität, laut einer aktuellen Umfrage der Gesellschaft für Europapolitik sind aber auch 67 Prozent dafür, die Sicherheits- und Verteidigungspolitik innerhalb der EU zu intensivieren. Und eine Mehrheit von 51 Prozent sagt sogar, es sei wichtig, „die Ukraine in ihrem Kampf gegen den russischen Angriff zu unterstützen“. Das ist ein Widerspruch. Aber woher soll auch ein Problembewusstsein dafür kommen?
Der Vollständigkeit halber auch ein Blick in Programme anderer größerer Parteien: Die FPÖ spricht sich für Neutralität und Heimatschutz aus. Sie bleibt dem insofern treu, als sie vorgibt, dass man sich in einer Festung mit dicken Mauern einbunkern und von den Geschehnissen rundherum abkoppeln kann. Die SPÖ ist ebenfalls für Neutralität, aber auch dafür, international Verantwortung zu übernehmen. Als „glaubwürdige Vermittlerin“ nämlich. Das ist zumindest ein Ansatz. Relevant wäre es allerdings, endlich einmal mitzuteilen, wie das konkret ausschauen könnte. Sonst ist es unglaubwürdig.