ANALYSE. Ausgerechnet in der Krise befindet sich Türkis-Grün selbst in einer größeren Krise, gibt es keinen Spielraum für unangenehme Wahrheiten.
Die Sache wirkt aussichtslos für ÖVP und Grüne: Zusammen erreichen sie nur noch gut ein Drittel der Wählerstimmen. Die Koalition hat damit ein Ablaufdatum. Nichts spricht dafür, dass es noch einmal eine Mehrheit geben könnte. Im Gegenteil, die Werte der beiden Parteien haben sich zuletzt sogar weiter verschlechtert – und das macht so vieles nur noch schwieriger.
Gefragt wären unangenehme Wahrheiten. Wie sie der deutsche Wirtschaftsminister Robert Habeck seit März immer wieder ausspricht: „Wir werden ärmer“, sagt der Grüne. Mehr und mehr ruft er außerdem zum Energiesparen auf, droht sogar, Unternehmen wie Haushalten ein eigenes Gesetz dazu vorzulegen.
In Österreich gibt es keinen vergleichbaren Politiker. Gründe? Unter anderem diese: Kanzler Karl Nehammer (ÖVP) und Vize Werner Kogler (Grüne) etwa sind keine Wort-Menschen in dem Sinne, die sie in Zeiten wie diesen eine Erzählung für eine Masse hätten. Vor allem aber wissen sie, dass ihre Amtszeit abläuft. Nehammer wird nach der nächsten Wahl kaum noch Kanzler, Kogler kaum noch Vizekanzler sein. Wobei es leider nicht so ist, dass sie nichts mehr zu verlieren haben, also wenigstens vor diesem Hintergrund zu Notwendigem schreiten könnten.
Beispiel Nehammer: Es ist gerade erst mit 100 Prozent zum ÖVP-Chef gewählt worden. Seine Aufgabe besteht darin, den Post-Sebastian-Kurz-Absturz zu begrenzen und sicherzustellen, dass die SPÖ nicht gar zu weit davonzieht. Im Übrigen muss er bis ins Frühjahr 2023 hinein möglichst gute Rahmenbedingungen für seine Freunde gewährleisten, die sich in Tirol, Niederösterreich, Salzburg und Kärnten einer Landtagswahl zu stellen haben. Die Aussichten sind nicht gut. Doch an den Ergebnissen wird er gemessen werden. So ticken sie in den Ländern nun einmal, ziemlich erbarmungslos.
Nehammer agiert aus einer Position der Schwäche heraus. Das ist eine denkbar schlechte Voraussetzung dafür, mit Menschen in Österreich, die zu rund 90 Prozent für eine Beibehaltung der Neutralität sind, weil ihnen jahrelang einfach nur eingeredet wurde, dass sie schütze, auch nur über sicherheitspolitische Optionen zu reden. Oder bei einem angeblich historischen Teuerungsausgleich auch nur 48 Stunden zuzuwarten und nicht gleich eine noch größere Maßnahme, nämlich eine Mehrwertsteuer-Senkung auf ausgewählte Lebensmittel, ins Spiel zu bringen – sprich, zu signalisieren, dass mehr nötig ist.
Gürtel enger schnallen, Energiesparen und solche Dinge dürfen sowieso nicht sein – obwohl sie aufgrund der ungleich größeren Gasabhängigkeit von Russland viel dringlicher wären als in Deutschland.
Daher kann diese Geschichte nicht gut ausgehen: Hierzulande wissen insgeheim auch fast alle, dass ein Wohlstandsverlust bzw. eine Zunahme an Armut läuft und Energieversorgungs-Engpässe drohen. Politik vermittelt jedoch zu sehr den Eindruck, alles mit schier unendlich viel Geld abwenden zu können. Irgendwann wird das auffliegen.
Das wäre zumindest ein Argument, jetzt zu einer Neuwahl zu schreiten: Die Gewinner könnten aus einer Position der Stärke heraus eine Regierung bilden. Und zwar mit einem Programm, das nicht, wie das bestehende, vollkommen aus der Zeit gefallen ist, sondern anstehenden Herausforderungen Rechnung trägt. Allein: ÖVP und Grüne werden sich mit ihrer Mehrheit auf parlamentarischer Ebene hüten, den Weg dafür freizumachen.
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