ANALYSE. Man sollte nicht nur darauf achten, welche Optionen der Bundespräsident unmittelbar in Bezug auf Herbert Kickl hätte. Zumal es daneben sehr viel gibt, was ebenfalls relevant ist.
Die Vorgeschichte ist schnell wiederholt: In einem ORF-Interview hat Bundespräsident Alexander Van der Bellen vor eineinhalb Jahren klargemacht, dass FPÖ-Chef Herbert Kickl im Falle eines Wahlsiegs nicht automatisch einen Regierungsbildungsauftrag erhalten wird von ihm. Seither wird spekuliert: Was wird er allenfalls tun? Gängiges Ergebnis: Wenn Kickl eine parlamentarische Mehrheit zu seinen Gunsten zusammenbringt, sich also mit der ÖVP auf eine Koalition verständigt, kann Van der Bellen de facto einpacken.
Man sollte das Ganze jedoch weiter sehen: Das Problem in Bezug auf Kickl ist nicht, dass er andere Meinungen vertritt, sondern seine Kampfansage an Grundlegendes wie die europäische Integration, Offenheit, Rechtsstaat, Demokratie und allem, was dazugehört (Medien, Debattenkultur etc.). Für seine solche Kampfansage steht jedoch nicht nur Kickl. Daher ist relevant, was Van der Bellen tun könnte, wenn er Kickl schon als Kanzler akzeptieren müsste; oder wenn es zu einer Koalition ohne Kickl kommt, mit der ebenfalls Problematisches im erwähnten Sinne einhergeht.
Für einen erheblichen Teil der Antwort steht ausgerechnet Thomas Klestil. Von ihm ist in Erinnerung geblieben, dass er Anfang 2000 eine schwarz-blaue Koalition nicht verhindern konnte und daher sichtbar widerwillig zur Angelobung des Kabinetts Schüssel I schritt. Diese Reduktion blendet jedoch aus, was noch war.
Erstens: Klestil hat beim Regierungsprogramm eine Präambel durchgesetzt. Der damalige ÖVP-Chef Wolfgang Schüssel musste darin zusammen mit Freiheitlichen etwa „unerschütterliche Verbundenheit“ betonen „mit den geistigen und sittlichen Werten, die das gemeinsame Erbe der Völker Europas sind und der persönlichen Freiheit, der politischen Freiheit und der Herrschaft des Rechts zugrunde liegen, auf denen jede wahre Demokratie beruht“.
Das war nicht nichts. Es war auch nicht nur eine Demütigung derer, die derlei bestätigen mussten, sie mussten vielmehr Bekenntnisse ablegen.
Zweitens: Klestil hat zwei freiheitliche Ministerkandidaten abgelehnt. Hilmar Kabas als Verteidigungsminister aufgrund eines ausländerfeindlichen Wahlkampfes, den dieser in Wien zu verantworten hatte. Und Thomas Prinzhorn als Finanzminister aufgrund von Aussagen wie jener, dass Ausländer von den Behörden gegenüber Österreichern bevorzugt und kostenlos mit Fruchtbarkeitsmedikamenten ausgestattet werden würden.
Ähnliches tat Van der Bellen 2017, als es wieder an eine schwarz- bzw. türkis-blaue Koalition ging. Er ließ vorsorglich wissen, dass er Johann Gudenus und Harald Vilimsky nicht als Regierungsmitglieder akzeptieren würde. Die beiden sind dann auch nicht zum Zug gekommen. Gudenus war schließlich aber unfreiwillig mit beteiligt am Ende der Koalition. Stichwort Ibiza-Affäre, in der er Hauptakteur neben Heinz-Christian Strache war.
Was lehrt das alles? Der Bundespräsident hat wichtige Einflussmöglichkeiten. Er kann eine blau-türkise oder türkis-blaue Koalition mit oder ohne Kickl nicht verhindern. Wenn er eine Notwendigkeit sieht, kann er nach dem Vorbild von Klestil jedoch verlangen, dass die künftigen Regierungsmitglieder bestimmte Bekenntnisse ablegen müssen. Zum Beispiel in Bezug auf Europa oder Rechte von Minderheiten. Als direkt gewähltes Staatsoberhaupt verfügt er dabei jedenfalls über eine demokratische Legitimation, die es kaum einem Politiker erlaubt, ein solches Bekenntnis abzulehnen.
Außerdem könnte Van der Bellen zum Beispiel verlangen, dass aufgrund der vielen blauen und vor allem auch türkisen Korruptionsaffären, ja aufgrund der Angriffe insbesondere auf die Wirtschafts- und Korruptionsstaatsanwaltschaft sowie Bemühungen, gegen Medien vorzugehen (Stichwort Zitierverbot aus Ermittlungsakten) eine parteiunabhängige Persönlichkeit die Führung des Justizministeriums übernimmt, der er zustimmt. Nebeneffekt: Eine solche Ministerin, ein solcher Minister könnte im Sinne einer Präambel Einfluss auf die gesamte Regierungsarbeit nehmen. Hier herrscht schließlich das Einstimmigkeitsprinzip.