ANALYSE. Mit dem überfälligen Abgang von Sebastian Kurz wird nichts klarer. Im Gegenteil: Regierung und ÖVP droht die Implosion, Neuwahlen könnten verlockend sein für ihre Mitbewerber. Zur Unzeit.
Es ist gut, dass Sebastian Kurz nicht mehr nur als Kanzler zur Seite, sondern nun auch als ÖVP-Chef und Fraktionsobmann zurückgetreten ist. Für alle. Zumal er sich in seiner Abschiedsrede überwiegend mit sich selbst beschäftigt hat, kann man bei ihm beginnen: Es war eine demokratiepolitische Zumutung, dass er seine letzten Funktionen unter Ausschluss der Öffentlichkeit, gewissermaßen von einem Hinterzimmer aus, praktizierte. Warum? Weil er zumindest den 1,8 Millionen Menschen verpflichtet war, die 2019 seine ÖVP gewählt hatten. Damit hätte Transparenz einhergehen müssen. Vor allem aber muss er sich jetzt nicht mehr „jagen“ lassen, wie er beklagte. Kann er sich voll auf die Anklage vorbereiten, mit der er fix rechnet: „Ich freue mich auf den Tag, wo ich vor Gericht beweisen kann, dass die Vorwürfe gegen mich schlicht und ergreifend falsch sind“, sagte er wörtlich. Für die Republik wäre demnach ohnehin nicht ausreichend Zeit übriggeblieben.
Und diese Republik braucht mehr denn je eine handlungs- wie entscheidungsfähige Regierung mit einem selbstbestimmten Bundeskanzler, keinem Statthalter. Österreich befindet sich in der größten Krise nach 1945. Kurz war die Pandemie zuletzt schon so lästig gewesen, dass er sich – zumindest auf seinen Kanälen (Facebook, Twitter) – nicht mehr damit auseinandersetzte.
Und jetzt? Jetzt herrscht eine große Ungewissheit. Sehr vieles ist möglich. Dass die Regierung auseinanderfällt und die ÖVP in der Bedeutungslosigkeit verschwindet. Dass es Neuwahlen gibt und dabei erträgliche oder auch unheilvolle Kräfte gewinnen (vgl. Analyse zu den Wählerströmen in den vergangenen Jahren).
Zunächst zur Regierung: Mit ihrer Erklärung, zu gehen, falls Sebastian Kurz als Bundeskanzler gehen muss, haben türkise Ministerinnen und Minister, von Wirtschaftsministerin Margarete Schramböck bis zum einst parteifreien Arbeitsminister Martin Kocher, Anfang Oktober signalisiert, dass sie ohne ihn nicht sein wollen. Das ist zu respektieren. Beim Wort genommen bedeutet es, dass nicht mehr ernsthaft zu rechnen ist mit ihnen.
Die ÖVP verfügt jedoch über keine Ersatzbank. Auf Bundesebene ist sie ein Sanierungsfall: Kurz hat sämtliche Positionen, von der Parteizentrale bis zur Parteiakademie, mit Vertrauensleuten besetzt. Sie sind nun ebenfalls orientierungslos. In den Ländern, denen es bisher vielleicht möglich gewesen wäre, Ausfälle zu kompensieren, herrscht aufgrund des Versagens in der Pandemie zunehmend selbst größte Not. Landeshauptleute wie Günther Platter (Tirol), Thomas Stelzer (OÖ) oder Wilfried Haslauser (Salzburg) müssen über jeden Tag froh sein, den sie im Amt überstehen.
Immerhin aber hat die ÖVP nach dem Abschied von Kurz nun die Möglichkeit, irgendetwas zu klären, was ihre Zukunft betrifft. In den vergangenen Wochen ist das nicht der Fall gewesen, lief das eher auf ein Schrecken ohne Ende hinaus.
Für Grüne könnte es naheliegend, für Sozialdemokraten, Freiheitliche und Neos durchaus verlockend sein, es auf Neuwahlen im Frühjahr anzulegen. Vizekanzler Werner Kogler (Grüne) könnte ein Koalitionsende durchaus begründen: Nicht nur, dass bei der letzten Nationalratswahl nicht so sehr die ÖVP, sondern von den relativ meisten Sebastian Kurz gewählt worden ist und die Wähler nach seinem Abgang daher Anspruch haben, wieder zu Wort zu kommen; auch das türkis-grüne Arbeitsübereinkommen ist nicht mit der ÖVP, sondern mit Sebastian Kurz fixiert worden. Also kann man jetzt nicht einfach so weitermachen. Zumal es etwa auch noch einen Finanzminister Gernot Blümel (ÖVP) gibt, der Beschuldigter in einem Verfahren ist.
Die Oppositionsparteien könnten vorerst eher nur gewinnen, wenn die Türkisen abstürzen: Sozialdemokraten und Freiheitliche gehen von einem extrem niedrigen Niveau aus, die Neos dürfen mit ein paar Tausend enttäuschten Bürgerlichen rechnen. Ob sich zum Beispiel eine Ampelkoalition hinterher ausgehen würde, steht auf einem anderen Blatt. Und überhaupt: In den nächsten Wochen und Monaten ist keine Zeit für Wahlkampf.
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