Potenzielle Willkürakte

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ANALYSE. Die Bundesregierung provoziert immer mehr Expertenkritik. Kein Wunder: Sie pfeift auf die Nachvollziehbarkeit ihrer Entscheidungen.

Vor ein paar Wochen stand an dieser Stelle, dass der verpflichtende Mundschutz wohl eher die Funktion eines Maulkorbs erfüllen solle: Virologisch macht ein Stück Textil, das nicht regelmäßig mit 95 Grad gewaschen und fachgerecht gehandhabt wird, wenig Sinn. Das bestätigt nun auch Franz Allerberger in einem Interview mit dem Nachrichtenmagazin „profil“. Franz, wer? Allerberger ist nicht nur Mediziner, sondern bemerkenswerterweise auch Abteilungsleiter bei der staatlichen Agentur für Gesundheit und Ernährungssicherheit (AGES).

Herr und Frau Österreicher wird freilich etwas ganz anderes weisgemacht. Sie meinen daher wohl, dass auch ein Mundschutz, der zwischendurch unterm Kinn oder – im Auto – am Rückspiegel hängt, die Übertragung von Covid-19 wirkungsvoll eindämmt. Wobei es nachvollziehbar ist, dass sie das glauben sollen. Alles anderes wäre schmerzlicher: Zum Beispiel eben die naheliegende „Message“, dass es nur darum geht, dass sie keine längeren Gespräche führen, wenn sie im Supermarkt oder in der Straßenbahn irgendwen treffen, was mit einem Mundschutz ja wirklich nicht einladend ist. Sprich: Abstandhalten wird hier indirekt gefördert.

Aber was weiß man schon, was die Regierung dazu bewogen hat? Entscheidungen gleichen eher Willkürakten. Bundeskanzler Sebastian Kurz (ÖVP) und andere Regierungsmitglieder behaupten und verkünden etwas. Sagen wir, es ist gut gemeint. Das jedoch ist nicht gut genug. Entscheidungen müssen vor allem aufgrund ihrer Konsequenzen nachvollziehbar sein. Sonst drohen irgendwann Vorwürfe wie Fahrlässigkeit und Machtmissbrauch.

Ein dramatisches Beispiel dafür ist die Verschärfung der Beschränkungen und Schutzmaßnahmen in der Woche vor Ostern: Im Unterschied zum Lockdown zwei Wochen davor wachsen diesbezüglich Zweifel an der Notwendigkeit. Der Public-Health-Experte Martin Sprenger sagt, zum damaligen Zeitpunkt sei schon klar gewesen, dass die Krankenhäuser und Intensivstationen nicht an ihre Kapazitätsgrenzen herankommen werden. Und dass das ein perfekter Zeitpunkt zur Deeskalation gewesen wäre, wie er auf „Addendum“ in einem lesenswerten Briefwechsel mit Michael Fleischhacker schreibt:

„Was für ein Irrtum. Am Montag traten Bundeskanzler, Vizekanzler, Gesundheitsminister und Innenminister gemeinsam vor die Presse und verkündeten „deutlich strengere Maßnahmen“. Der Grund waren die Empfehlungen eines der Coronavirus-Taskforce niemals vorgelegten „Expertenpapiers“. Der Bundeskanzler äußerte die Befürchtung, dass es in rund zwei Wochen zu Engpässen in den Krankenhäusern und zu einer Überforderung der Intensivmedizin kommen könnte. Es herrsche die „Ruhe vor dem Sturm“, und wie „grausam dieser Sturm sein kann, sieht man, wenn man in unser Nachbarland Italien schaut“. Rückblickend war diese Eskalation der Angst nicht faktenbasiert, vollkommen unnötig und hat viel vermeidbaren gesundheitlichen, psychischen, sozialen und ökonomischen Schaden verursacht. Das Expertenpapier war schon zum Zeitpunkt der Erstellung wissenschaftlicher Unsinn, so wie die darin prognostizierten zusätzlichen (!) 100.000 Toten immer vollkommen absurd waren.“

Das ist ein brisanter Punkt: Hier wird der Regierung zum Verhängnis, dass sie auf Transparenz pfeift. Vielleicht könnte sie ja nachweisen, dass sie doch verdammt gute Gründe hatte, so zu entscheiden wie sie entschieden hat. Es ist ihr jedoch schlicht egal. Und in diesem Fall geht es ausnahmsweise nicht um einen Schönheitspreis, sondern um viel, viel mehr: Mit der Dauer von Beschränkungen wächst etwa die Gefahr, dass die Wirtschafts- und Sozialkrise keinen V-, sondern einen L-Verlauf nimmt, also wesentlich länger dauert.

Vor diesem Hintergrund wäre es auch im ureigenen Interesse von Kurz und Co., belegen zu können, dass sie nach bestem Wissen und Gewissen gehandelt haben. Dass sie nicht macht- oder parteipolitisch entscheiden, sondern möglichst faktenbasiert nach Abwägung aller Kollateralschäden und Risiken etc. Dazu wären freilich zwei, drei Dinge nötig: Die Größe, sich unvoreingenommen beraten, überzeugen und widerlegen zu lassen. Ja, das Zugeständnis, dass man allein ausnahmsweise einmal nicht alles unter Kontrolle hat. Wie auch bei einer Jahrhundertkrise?

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