ANALYSE. Österreich hat einen neuen Kanzler. Das wird nach dem russischen Einmarsch in der Ukraine deutlich. Gerade auch in Bezug auf Flüchtlingspolitik.
Was bisher war, ist nicht vergessen, jetzt gibt es aber ein neues übergeordnetes Thema: Mit dem Krieg in der Ukraine gehen viel dringlichere Fragen einher als etwa mit dem parlamentarischen Untersuchungsausschuss zu türkisen Korruptionsaffären oder selbst mit Corona. Beides bleibt von Bedeutung, gemessen an dem, was wenige hundert Kilometer entfernt von Österreich geschieht, vorerst aber halt von relativer.
Auch die Innenpolitik insgesamt stellt sich heute anders dar als gestern. Da konnte man sich mit der Zukunft von Gesundheitsminister Wolfgang Mückstein (Grüne) beschäftigen. Oder mit dem 150-Euro-Gutschein „gegen“ die steigenden Energiepreise. Oder mit der unglücklichen Rolle von Bundeskanzler und ÖVP-Chef Karl Nehammer als Nachfolger von Sebastian Kurz: Es konnte und wollte ihm nicht gelingen, sich von der Vergangenheit abzusetzen. Wie auch? Zum einen sind Regierungs-, Fraktions- und Parteibüros voll mit Leuten von Kurz. Zum anderen waren die Medien bisher voll mit lästigen Geschichten, die in irgendeiner Weise mit diesem zusammenhingen.
Abgesehen davon ist Nehammer einen großen Wurf schuldig geblieben: Man weiß nicht, ob er einen Plan für Österreich oder die Volkspartei hat. Oder ob er allenfalls nur leicht abgewandelt gegenüber seinem Vorgänger weitermachen möchte wie bisher.
Der Ukraine-Krieg löst all diese Probleme und Fragestellungen nicht. Das wird lediglich aufgeschoben. Insofern kann man, wie der Politikwissenschaftler Fritz Plasser, zum Beispiel weiterhin zweifeln daran, dass die Koalition bis 2024 hält. Doch spielt das eine Rolle?
Durch den Krieg ist Karl Nehammer gezwungen, Standpunkte einzunehmen und gegenüber den Menschen in Österreich zu vermitteln. Zumal keine Zeit bleibt, irgendetwas durch Umfragen abzutesten und wochenlang vorzubereiten, kommt es eher auf ihn allein an. Sprich: Er bekommt eine zweite Chance (nach seinem Amtsantritt), sich zu beweisen.
Mit einem Urteil sollte man noch vorsichtig sein, aber nicht übersehen, was Nehammer bereits geliefert hat: Wie er die Kriegshandlungen sieht, hat er unmissverständlich zum Ausdruck gebracht. Es handelte sich demnach um einen völkerrechtswidrigen Angriff auf die territoriale Integrität und Souveränität der Ukraine. Österreich ist solidarisch mit dem Land. Es verurteilt das Vorgehen von Wladimir Putins Russland.
Vor allem aber werden Flüchtlinge aufgenommen: „Natürlich dann, wenn es notwendig ist“, so Nehammer in der ZIB2 vom 23. Februar: „Die Ukraine ist, wenn man einen Zirkel einstechen würde in Wien und einen Radius zieht, näher zu Wien als Bregenz. Das heißt, wir reden hier von Nachbarschaftshilfe“, erinnerte der Kanzler an die großen Leistungen, die Menschen in Österreich etwa schon in der Ungarn-Krise in den 1950er und beim Zerfall von Ex-Jugoslawien in den 1990er Jahren erbrachten. So etwas sollte sich im Falle des Falles wiederholen lassen können.
Diese Botschaft ist 2022 gar nicht so selbstverständlich. Was redete auch Nehammer selbst vor einem halben Jahr nach der Übernahme Afghanistans durch die Taliban nicht von Hilfe vor Ort oder davon, dass die Verhältnisse im Land unter den Islamisten vielleicht ohnehin erträglich werden könnten. Oder davon, dass Österreich schon Flüchtlinge über alle Maßen aufgenommen habe: Das entsprach dem Narrativ, wonach sich 2015 nicht wiederholen dürfe (was wohl niemand will). Da klingt der Nehammer von heute schon sehr viel anders.
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