Kurz‘ Chance, Kurz‘ Pflicht

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ANALYSE. Der Kanzler und ÖVP-Chef kann auch mit den mächtigsten Parteifunktionären fertig werden. Sie können im Unterschied zu ihm keine Massen überzeugen. Er muss nur wollen – wie es seine Aufgabe ist.

In den vergangenen Tagen hat Bundeskanzler und ÖVP-Chef Sebastian Kurz gewissermaßen resigniert: Das Wechselspiel aus Lockerungen und Verschärfungen sogenannter Lockdowns ist aus dem Ruder gelaufen. Die Leute haben genug. Also gewährte er ein paar Freiheiten – ausdrücklich im Wissen, dass bald wieder eine exponentielle Ausbreitung der Infektionen realistisch sei und einmal mehr fast alles zugemacht werden muss. Dummerweise ist da auch schon Tirol passiert, doch der Kanzler bemühte sich eben nicht mehr weiter darum, das Geschehen zu kontrollieren oder die Leute zu überzeugen; er überließ sie ihrer (Un-)Vernunft.

Das bescherte dem 34-Jährigen den bisher kritischsten Punkt als Kanzler und Parteivorsitzender: Tiroler Nationalratsabgeordnete ließen wissen, dass ihnen Interessenvertreter aus ihrem Land näher sind als Vorstellungen von Experten, ihm, und „seinem“ Gesundheitsminister Rudolf Anschober (Grüne). Auf die Spitze getrieben hätte das (wie hier ausgeführt) zum Verlust der türkis-grünen Mehrheit auf parlamentarischer Ebene führen können.

Wie auch immer: Am Ende setzten Kurz und Anschober durch, dass Tirol vorübergehend nur verlassen darf, wer ein negatives Testergebnis vorweisen kann. Und Landeshauptmann Günther Platter (ÖVP), der bis zuletzt so getan hatte, als würde nichts Besorgniserregendes vorgehen, wirkte erleichtert. Verständlich: Er seht eher nur hilflos zwischen den Fronten.

Andererseits haben sich die Tiroler Kammerpräsidenten, die den Aufstand organisiert haben und für die sich die erwähnten Abgeordneten einspannen ließen, selbst geschwächt: Halb Europa, vor allem aber ganz Deutschland hat gesehen, wie absurd sie sich aufführen und zu welcher Sorglosigkeit sie de facto aufrufen. Als hätte ihnen Ischgl nicht genügt.

Das sind keine Gegner für Sebastian Kurz. Wenn er will, kann er sich locker über sie hinwegsetzen. Er kann, was sie sie nicht können: Die öffentliche Meinung mit ein paar geraden Sätzen beeinflussen. Auf der Pressekonferenz am Dienstagabend hat er einerseits gesagt, dass niemand schuld daran sei, dass Mutationen auftreten würden; und andererseits darauf hingewiesen, dass der Impfstoff Astrazeneca nur eingeschränkt wirke bei der Variante, die erstmals in Südafrika festgestellt worden ist. Das hat gegriffen. Davon zeugt etwa der Umstand, dass umgehend Stimmen aus Tirol laut wurden, einen anderen Impfstoff zu liefern. Sprich: Es ist angekommen, dass die Lage ernst ist.

Der Kanzler hat die Pflicht, nicht nur dann für Dinge zu kämpfen, die sachlich notwendig erscheinen, wenn es ihm gefällt oder wenn es, wie im vorliegenden Fall, möglicherweise schon zu spät ist. Oder wenn es ausschließlich Applaus gibt. Er hat das immer zu tun. Insofern ist diese Tirol-Geschichte eine Ermunterung für Sebastian Kurz, seinem Auftrag nachzukommen: Im Unterschied zu holzschnittartigen Interessensvertretern beherrscht er das Spiel über die Bande; kann er so reden, dass es zumindest eine kritische Masse überzeugt, Widerstand dagegen also eher nach hinten losgeht.

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