Kritik? Jetzt erst recht!

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ANALYSE. Der Kanzler will ausdrücklich, dass Regierungsentscheidungen nicht kritisiert werden. Dieser Wunsch kann und darf nicht in Erfüllung gehen.

Österreich ist abgestumpft. Vieles fällt gar nicht mehr auf. Zum Beispiel dieser Satz von Bundeskanzler Sebastian Kurz (ÖVP), den Ö1 im Abendjournal vom 1. Dezember im O-Ton gebracht hat: „Ich hoffe auch, dass die Öffnungsschritte, die wir sehr behutsam vornehmen müssen, auch dementsprechend mitgetragen und nicht kritisiert werden.“ In Abwandlung einer Formulierung der deutschen Regierungschefin Angela Merkel (CDU) kann man daraus schließen, dass nicht so sehr die Pandemie eine demokratische Zumutung ist, sondern vielmehr die Art und Weise, wie Politik damit umgeht.

Hierzulande gilt zunehmend, dass bei harten, aber notwendigen Auseinandersetzungen nicht mehr differenziert wird – zwischen Personen, Methoden und Inhalten beispielsweise; oder zwischen dem Respektieren (und dem Befolgen) von Regierungsentscheidungen und Kritik daran. In diesem Sinne wird etwa jemand, der konsequent kritisch ist, schon einmal als „Kurz-Hasser“ bezeichnet.

Das ist absurd und gefährlich. Warum? Gerade die österreichische Regierung verfügt über Mittel und Wege, ihre Botschaften zu kontrollieren. Reichweitenstarke Medien lassen sich gerne einspannen. Das ist ein Geben und Nehmen, es gibt millionenschwere Inserate dafür; oder für den einen oder anderen Direktor sogar die Aussicht auf eine Wiederbestellung.

Aufgabe von Journalismus ist es jedoch, nicht zu transportieren, was die Regierung gerne hätte, sondern herauszuarbeiten, was ist; dazu zählen Fakten, Widersprüche zu Inszenierungen (wie „Sparen im System“) und vieles andere mehr. Sprich: Es gibt immer etwas zu tun.

In der Coronakrise ist Kritik bei aller Sehnsucht nach einem gewissen Rest an Ordnung und Beschaulichkeit wichtiger denn je. Laut Merkel müssen Kritik und Widerspruch gerade jetzt nicht nur erlaubt sein, sondern eingefordert und wechselseitig angehört werden: Politik trifft weitreichende Entscheidungen, die einzelne Existenzen etwa (wirtschaftlich) vernichten oder nicht; die in jedem Fall aber alle spürbar treffen. Es wäre naiv, davon auszugehen, dass Kurz und Co. hier immer nur das Gute und Richtige tun wollen. Sie sind ja nicht frei von Interessen.

Also ist eine kritische Auseinandersetzung doppelt wichtig: Sebastian Kurz und seine Mitstreiter empören sich gerne darüber, dass der zweite Lockdown nicht als Alternativlosigkeit stillschweigend hingenommen wurde. Das ist zu viel verlangt: Niemand weiß, was der „richtige“ Weg ist, es ist jedoch offenkundig, dass es unterschiedliche Wege gibt. Italien und die Schweiz haben das Infektionsgeschehen bisher (!) ohne flächendeckenden Lockdown etwas besser unter Kontrolle gebracht als Österreich. Deutschland hat viel früher reagiert. Wenn, dann ist der rot-weiß-rote Lockdown durch zu langes Zuwarten alternativlos gemacht worden.

Bei alledem geht es nicht um einen internationalen Schönheitswettbewerb, sondern um Dramatisches: Die Begrenzung unmittelbarer Schäden und sogenannter „Kollateralschäden“, die über Generationen hinweg sichtbar bleiben werden. Da muss ein Streit darüber nicht nur ertragen, sondern immer wieder ausgetragen werden.

Das gilt auch für die nunmehrigen Lockerungen: Zumal es bei der österreichischen Regierung zur Regel geworden ist, mehr oder weniger evidenzbefreite Entscheidungen nicht zu begründen, könnte Kritik daran zwingend werden; jedenfalls aber tut es das, weil Lockerungen nicht nur mehr Freiheiten mit sich bringen, sondern auch mit weitreichenden Beschränkungen einhergehen, die weiterhin bestehen werden. Dazu ist eine Auseinandersetzung unverzichtbar.

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