ANALYSE. Sebastian Kurz hätte immer mehr Gründe, die Option Minderheitsregierung nicht ganz zu vergessen. Sie wäre sehr attraktiv für ihn.
Man kann sich des Eindrucks nicht erwehren, dass bei den Koalitionsverhandlungen der Wurm drin ist: Als erste Zwischenergebnisse wurden zuletzt Dinge präsentiert, die ziemlich genau so auch schon zum Auftakt als „Leuchtturmprojekte“ vorgelegt worden waren. Die Senkung der Steuer- und Abgabenquote auf 40 Prozent beispielsweise; auch die Zusammenlegung von Sozialversicherungsträgern ist nicht neu. Soll heißen: Groß weitergegangen ist da ganz offensichtlich nichts.
Wobei man natürlich fair sein muss: Entscheidend ist, was am Ende präsentiert wird. Und jeder vernünftige Verhandler wird ganz wesentliche Dinge bis zuletzt offenlassen. Dennoch stimmt irgendetwas nicht: Schwarz-Blau fehlt einerseits eine Geschichte, die über allem steht; eine Geschichte, wie sie ÖVP-Chef Sebastian Kurz im Wahlkampf erzählt hat („So kann es nicht weitergehen, wir brauchen Bewegung …“). Zudem beginnen Nebensächlichkeiten alles andere zu überlagern, wie man es von der alten Koalition kennt: Zwei Wahlsiegerparteien treten zwar an, das Land zu erneuern, lassen aber eine tagelange Debatte ausschließlich darüber zu, ob sie das beschlossene Rauchverbot in der Gastronomie rückgängig machen werden oder nicht. Das ist absurd.
Überhaupt muss man sich wundern: Kurz agiert sehr zurückhaltend. Damit lässt er zu, dass zunehmend der Eindruck entsteht, er verhandle nicht nur auf Augenhöre mit den Freiheitlichen, sondern lasse vielmehr zu, dass diese den Ton angeben. Was Kalkül sein kann und zu keinen voreiligen Schlüssen führen soll; es ist aber nicht ohne Risiko für ihn, lebt er bisher doch davon, allein zu strahlen.
Eine Minderheitsregierung würde mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit in absehbarer Zeit nicht gestürzt werden.
Wie es überhaupt aus ÖVP-Sicht den einen oder andern Grund gegen Schwarz-Blau geben kann: Der Widerstand in weiten Teilen von Wirtschafts- und Arbeitnehmerkreisen der Partei gegen eine Abschaffung der Pflichtmitgliedschaft bei den Kammern, wie sie von den Freiheitlichen verlangt wird. Oder der Umstand, dass Kurz einigen Erklärungsbedarf hätte, würde er diesen das Innen- und das Außenministerium überlassen.
Andererseits gibt es gute Gründe für die ÖVP, die Alternative Minderheitsregierung nicht ganz abzuschreiben. Zumal eine solche mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit in absehbarer Zeit nicht gestürzt werden würde – bzw. die Volkspartei das sogar selbst bestimmen könnte:
- Alle wesentlichen Projekte, die Kurz bisher vorgelegt hat, werden von einer Mehrheit auf parlamentarischer Ebene unterstützt.
- Eine Verweigerung durch die eine oder andere Partei ist abgesehen davon unter Umständen nur bis zu dem Punkt möglich, ab dem Neuwahlen drohen. Daran kann zumindest die größte Oppositionspartei, die SPÖ, kein Interesse haben: Sie hat im Moment nicht nur kein Geld für einen Wahlkampf, sondern muss sich überhaupt erst organisieren, wie Christian Kern immer wieder bestätigt; er braucht erst einen Bundesgeschäftsführer und ein kampagnenfähiges Team in der Löwelstraße.
- Eher baldige Neuwahlen wünschen können sich die Freiheitlichen. Auf der anderen Seite aber müssten sie im Fall des Falles erst begründen, warum sie Kurz zum einen nicht tun lassen und zum anderen gar noch Vorhaben blockieren, die sie bisher ebenfalls gefordert haben (Streichung Sozialleistungen für Neuzuwanderer, Kürzung Mindestsicherung etc.).
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