ANALYSE. Für die ÖVP wird mit dieser Europawahl deutlich, was sich schon länger abzeichnet: Abschied von sehr viel Macht.
Wolfgang Sobotka ist schwer zu fassen. „Sie sind wahrscheinlich einer der umstrittensten Politiker Österreichs, aber beim Thema Antisemitismus sprechen Ihnen sogar die größten Gegner Glaubwürdigkeit und Kompetenz zu“, beginnt die Kollegin Anna Gasteiger im Nachrichtenmagazin „News“ ein Interview mit ihm. Damit bringt sie zum Ausdruck, dass ein ganz schlichtes Urteil über ihn unmöglich ist: Zu seinem Engagement gegen Antisemitismus ist er nicht gekommen, weil er gefunden hat, dass es ihm politisch nützlich sein könnte. Er hat vielmehr Geschichte studiert und eine Zeit lang am Dokumentationsarchiv des Österreichischen Widerstands (DÖW) gearbeitet: „Es ist natürlich auch meinem familiären Hintergrund geschuldet“, erklärt er Gasteiger: „Mein Großvater war aktiver Nationalsozialist.“
Ungleich einfacher zu fassen ist der Politiker Wolfgang Sobotka, der 2017 etwa im Sinne von Sebastian Kurz gegen Reinhold Mitterlehner und die damalige (große) Koalition gemobbt hat; der als Nationalratspräsident ungeniert parlamentarische Untersuchungsausschüsse geleitet hat, die gegen seine Partei gerichtet waren; und der als Präsident nebenbei auch „Picture Control“ bzw. die Einschränkung der Pressefreit auf parlamentarische Ebene zu verantworten hat (vgl. Bericht dazu hier). Alles für die Macht und für die Partei sozusagen.
Mit der Macht der Partei ist es in der gewohnten Form jedoch bald vorbei: Bei der Nationalratswahl wird Sobotka nicht mehr kandidieren. Wobei: Es ist nicht bekannt, dass ihm Karl Nehammer auf der Bundesliste einen aussichtsreichen Listenplatz gegeben hätte. In seinem Heimatland Niederösterreich haben sie bereits denen den Vorzug gegeben, von denen sie glauben, dass das ihre Besten seien: Verteidigungsministerin Klaudia Tanner und Innenminister Gerhard Karner. Fragen? Sobotka muss es wehgetan haben.
Mit der Europawahl wird das Ende einer vorübergehenden ÖVP-Dominanz in der österreichischen Politik eingeläutet: Die Partei wird im besten Fall für sie wohl nur auf Platz zwei hinter der FPÖ landen. Im besten Fall für sie wird sich das bei der Nationalratswahl im Herbst wiederholen. Sie wird dann um mindestens ein Drittel weniger Mandate haben. Nationalratspräsident wird ein Freiheitlicher werden. Den zweiten oder dritten Präsidenten muss sich Sobotka mit bald 70 Jahren nicht mehr antun. Es wäre ein brutaler Abstieg.
Er geht mit der Zeit, es bricht eine andere an. Die ÖVP mag sich in der Regierung halten können. Aber halt mit so wenig Einfluss wie seit Jahrzehnten nicht mehr. Die Optionen: Juniorpartner unter Kickl oder ein Bündnis mit Sozialdemokraten und Grünen oder Neos. Aus ihrer Sicht heißt das: Pest oder Cholera. Opposition wäre der Tod für sie.
Schwacher Trost: Sie hat es in der Hand, zu entscheiden, wer Österreich künftig regieren wird. Kickl kann ohne sie einpacken, Babler nur mit ihrer Hilfe aufsteigen. Inhaltlich das geringere Übel wäre aus ihrer Sicht eindeutig Kickl. Er ist ihr in den meisten Fragen, die ihr wichtig sind, näher. Im Übrigen ist sie flexibel.
Nicht einmal Sobotka, der sich so sehr gegen Antisemitismus engagiert, hat ein Problem damit, dass seine Landespartei in Niederösterreich mit Liederbuch-Affären-Mann Udo Landbauer zusammenarbeitet. Er hat jedenfalls keines bekundet – und seine Glaubwürdigkeit damit auch in dieser Hinsicht beschädigt.
Umso deutlicher musste er vor wenigen Wochen in einem „profil“-Interview übrigens eine Koalition mit der FPÖ auf Bundesebene ausschließen: Dafür lege er seine Hand ins Feuer, erklärte er. Doch selbst das ist jetzt nichts mehr wert: Die Privatperson Sobotka wird in ein paar Monaten keinen Einfluss mehr darauf haben.