KOMMENTAR VON GERHARD MARSCHALL. Automatische Neuwahlen nach jedem Ende einer Regierung sind politische Folklore, die das Parlament nicht ernst nimmt.
Warum müssen wir schon wieder wählen? Weil sich der Vizekanzler und sein Klubobmann im Rausch um Kopf und Kragen schwadroniert haben – und das öffentlich geworden ist. Und weil der Kanzler die Gelegenheit genutzt hat, gleich auch noch den Innenminister zu feuern, wissend, dass das die türkis-blaue Koalition sprengen würde.
Was das alles mit dem Parlament zu tun hat? Nichts. Dennoch beschließt der Nationalrat die Selbstauflösung, wie das hier zu Lande so Brauch ist. Von den 25 Legislaturperioden der Zweiten Republik sind 18 vorzeitig zu Ende gegangen, nachdem die diversen Koalitionen mit ihrer Gemeinsamkeit am Ende waren. Oder weil es gerade opportun erschien, eine Neuwahl auszurufen.
Wenn in Norwegen eine Regierung auseinander bricht, bleibt das Parlament im Amt.
In Norwegen ist das anders. Wenn dort eine Regierung auseinander bricht, bleibt das Parlament im Amt, weil es ja auch nicht gescheitert ist. Es gilt dann eben, auf Basis der von den Wählerinnen und Wählern verteilten Mandate eine neue Regierungsmehrheit zu zimmern. Oder eine Minderheitsregierung sucht sich von Fall zu Fall unterschiedliche Mehrheiten.
Die ehemalige Nationalratspräsidentin Barbara Prammer hat einmal angeregt, die fünfjährige Legislaturperiode fix und unverkürzbar in der Verfassung zu verankern, ohne Möglichkeit der vorzeitigen Auflösung des Nationalrats. Der Vorschlag ist verpufft, hat nicht einmal unter den Abgeordneten eine ernsthafte Debatte ausgelöst, in deren ureigenstem Interesse eine solche Aufwertung sein müsste.
Würde sich der Nationalrat wegen des freiheitlichen Ibiza-Skandals nicht selbst auflösen, würde er tatsächlich zum Zentrum des innenpolitischen Geschehens. Zu eben jenem Zentrum, als welches er oft bezeichnet wird und welches er in einer parlamentarischen Demokratie auch ist, besser: sein sollte. Dazu bräuchte es freilich ein anderes Selbstverständnis der Abgeordneten. Und Selbstbewusstsein, sodass es einem Bundeskanzler gar nicht in den Sinn käme, angesichts einer handfesten Regierungskrise nicht unverzüglich dem Parlament Rede und Antwort zu stehen.
Lieber folgen die Abgeordneten der Regierung im Scheitern.
Doch mit einem selbstbewussten Parlament ist das in Österreich so eine Sache. Kaum schwingt es sich zu Eigenständigkeit auf, entzieht sie der Regierung mehrheitlich das Vertrauen, wie es die Verfassung in Krisensituationen gestattet, kommt das in der Bevölkerung gar nicht gut an. Der ist das gleich einmal zu viel der parlamentarischen Demokratie, basierend auf einer ausgeprägten Sehnsucht nach Harmonie und vererbtem Untertanengehorsam.
Auf dieser über Jahrzehnte verfestigten Stimmungslage beruht die Übermacht der Regierung gegenüber dem Parlament. Dem von allen Regierungen entmündigten Nationalrat mangelt es an echter politischer Kraft, sodass es die eigentlich selbstverständliche Machtbalance in der Praxis nicht gibt. Die zwar offiziell vom Volk gewählten, in Wahrheit aber den Parteien verpflichteten Abgeordneten wollen die ihnen von der Verfassung zugeschriebene Macht gar nicht. Lieber folgen sie artig der Regierung im Scheitern, lassen sie die Bürgerinnen und Bürger immer wieder neu wählen und stellen das als lebendige Demokratie dar. Und hinterher wird wieder der Regierungswille exekutiert.
Gerhard Marschall (66) ist langjähriger Innenpolitik-Journalist und unter anderem Träger des Kurt-Vorhofer-Preises. 2008 bis 2014 arbeitete er als Pressesprecher für die damalige Nationalratspräsidentin Barbara Prammer (SPÖ).