ANALYSE. Plötzlich können Kurz und Co. gar nicht genug Gesetzesbeschlüsse gefasst werden vor der Wahl. Damit begehen sie Wortbruch, neutralisieren vor allem aber ihre Mitbewerber.
117.468 Vorzugsstimmen bei der Nationalratswahl 2017 sind Sebastian Kurz nicht genug gewesen, um das Mandat, das ihm auch von daher zusteht, nach seinem (vorübergehenden) Ende seiner Kanzlerschaft anzunehmen. Er zieht es vor, sich in den nächsten Wahlkampf zu begeben und ganz Österreich zu bereisen. Und zwar unter einem bemerkenswerten Motto, das auf das Misstrauensvotum gegen ihn und sein Kabinett anspielt: „Rot-Blau hat bestimmt, das Volks wird entscheiden.“ Dass das Volk die parlamentarischen Mehrheitsverhältnisse festgelegt hat, ignoriert er damit genauso wissentlich wie dieses Faktum: Neuwahlen hat er selbst überhaupt allein bestimmt; es ist vielleicht nur nicht so aufgefallen, weil es (fast) allen recht ist.
Mit Prinzipien nimmt man es besonders in Wahlkampfzeiten aber so oder so nicht so genau. Wobei wir bei der ÖVP von Sebastian Kurz bleiben müssen: Generalsekretär Karl Nehammer hatte vor zwei Wochen gleich einmal all jene gewarnt, die meinen, dass das freie Spiel der Kräfte auf parlamentarischer Ebene zu allerhand Gesetzesbeschlüssen genützt werden könnte. Man müsse die Bürger vor teuren Wahlzuckerln schützen, sprach sich Nehammer dafür aus, dass vor dem Urnengang keine Maßnahmen mit budgetären Auswirkungen beschlossen werden dürften. Ja, vorübergehend war der ÖVP das so wichtig, dass eine solche Verfassungsbestimmung sogar Voraussetzung für die Einführung eines generellen Rauchverbots in Gastronomiebetrieben sein sollte.
Und nun? Alles vergessen: Die ÖVP zieht auch so beim Rauchverbot mit, will auf Zuruf der „Kronenzeitung“ ein Plastiksackerlverbot fixieren und bei der Gelegenheit gleich auch eine Erhöhung der Mindestpension, die selbstverständlich ins Steuergeld gehen wird.
Merke: Auch die Neue Volkspartei wird in Wahlkampfzeiten pragmatisch, um es vorsichtig auszudrücken. Was populär ist, geht, eigene Überzeugungen hin oder her. Wobei Kurz und Co. immer auch zwei Ziele verwirklichen. Zum einen sorgen sie für etwas, was gut ankommt. Zum anderen nehmen sie den Mitbewerbern potenzielle Wahlkampfthemen aus der Hand.
Im Nationalratswahlkampf 2017 war die Abschaffung des Pflegeregresses ein herausragendes Beispiel dafür: Besonders ÖVP-Ländervertreter hatten das zunächst abgelehnt. Die SPÖ unter ihrem damaligen Vorsitzenden Christian Kern meinte prompt, in der Abschaffung ein Wahlkampfthema gefunden zu haben, das ihr nützen könnte. Die Rechnung hatte sie jedoch ohne Kurz gemacht: Die ÖVP stimmte letztlich zu, womit das Thema für die SPÖ erledigt war.