ANALYSE. Die neue Volkspartei stellt sich gezielt gegen alles Fremde. Auch wenn sie damit in Bezirken wie der Josefstadt verliert. In ehemaligen FPÖ-Hochburgen ist viel mehr zu holen. Eine unheilvolle Geschichte.
Die ÖVP ist zuletzt nicht in der bürgerlichen Welt zu Wahlerfolgen gekommen; ganz im Gegenteil, wie das Beispiel Wien sehr eindrucksvoll zeigt, wo natürlich auch der Faktor Urbanität hinzukommt: Bei der Nationalratswahl 2019 hat die neue Volkspartei von Sebastian Kurz in der Josefstadt, wo es sogar eine türkise Bezirksvorsteherin gibt, nicht gewonnen, sondern knapp drei Prozentpunkte (auf 23 Prozent) verloren. Was – zynisch formuliert – einer großen Leistung gleichgekommen ist: Fast überall vom Boden- bis zum Neusiedlersee hat die Partei zugelegt; und zwar stark. Zur Erinnerung: 2017 führte Kurz die ÖVP von 24 auf 31,5 Prozent; und 2019 von 31,5 auf 37,5 Prozent (siehe Grafik). Ausgerechnet die Josefstadt zählte also – wie auch ein paar andere klassisch-bürgerliche Bezirke der Bundeshauptstadt – zu den großen Ausnahmen.
Eher dem Trend entsprechend lief es für die ÖVP bei diesen Wahlen in der Donaustadt. 2013 hatte sie sich dort noch mit 10,3 Prozent begnügen müssen; im vergangenen Jahr erreichte sie mit 26,2 Prozent gut zweieinhalb Mal mehr.
Diese Ergebnisse sind nicht irgendwoher gekommen. Sie hängen mit einer gezielten Neuausrichtung der Partei durch Sebastian Kurz zusammen. Und das wird nun eben auch im Hinblick auf die Wiener Gemeinderatswahl am 11. Oktober konsequent fortgesetzt: Nicht traditionelles Bürgertum steht im Fokus, das die Offenheit schätzt, die die Urbanität mit sich bringt und die insbesondere auch in sehr internationalen Verhältnissen zum Ausdruck kommt, sondern ganz andere Bevölkerungsschichten. Vereinfacht ausgedrückt: Ehemalige bzw. bisherige FPÖ-Wähler, die zumindest distanziert zu Europa und allem Fremden stehen; die sich bisher von Leuten wie Heinz-Christian Strache mit Sprüchen wie „Daham statt Islam“ oder „Pummerin statt Muezzin“ angesprochen fühlten. Sie leben in sehr großer Zahl zum Beispiel in der Donaustadt. Dort ist es der ÖVP 2019 sehr zielsicher gelungen, den Freiheitlichen einen guten Teil ihrer Wähler abzunehmen; die Blauen büßten vor allem zugunsten der ÖVP ganze elf Prozentpunkte ein.
Man könnte auch sagen, die Volkspartei von Sebastian Kurz kümmere sich nicht weiter um ihre Wurzeln und ihre bisherige Ausrichtung; sie betreibt sehr nüchtern Marktforschung, um sich ganz den Ergebnissen unterzuordnen.
Also fordert ÖVP-Wien-Spitzenkandidat Gernot Blümel „Deutsch für den Gemeindebau“, lehnt im Vorbeigehen die Aufnahme minderjähriger Flüchtlinge aus griechischen Lagern ab und wird dabei von Kurz bzw. einem Plädoyer für „flexible Solidarität“ unterstützt. Nächstenliebe nicht aus Prinzip, sondern nach Lust und Laune, sozusagen. Oder Integrationsministerin Susanne Raab (ÖVP): Sie weiß natürlich, dass eine andere als eine deutsche Umgangssprache per se ebenso wenig problematisch ist wie ein Migrationshintergrund; aber sie problematisiert es ganz einfach, weil jahrelange Vorarbeit der Freiheitlichen dazu geführt hat, dass Migration und Fremdsprachen prinzipiell negativ besetzt sind. Ja, sie lässt in diesem Sinne auch noch wissen, dass sie bzw. die ÖVP dafür sorgen werde, dass es in Österreich kein Little Italy und kein China Town geben werde. Das mag die Josefstädter Bürgerlichen, die sich abends nicht entscheiden können, welche (Top-)Pizzeria oder welchen Asiaten sie besuchen sollen, abschrecken; aber das wird in Kauf genommen – in Bezirken wie der Donaustadt gibt es viel mehr zu gewinnen.
Zumindest kurzfristig. Längerfristig begibt sich die ÖVP hier freiwillig in eine Radikalisierungsspirale: Sie muss die Leute, die sie so gewinnt, bei Laune halten; und sie wird sich dabei auch zunehmend gegen Freiheitliche behaupten müssen, die irgendwann wieder Tritt fassen werden. Da gibt es kein Zurück (ohne massive Wahlverluste), sondern nur ein Weiter und Weiter bzw. Schärfer und Schärfer.
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