ANALYSE. Der FPÖ-Chef profitiert davon, über- oder unterschätzt zu werden. Das ist ganz in seinem Sinne – und macht ihn demokratiepolitisch nur noch gefährlicher.
Zu „Kein Kanzler Kickl“, einem Text, der vor wenigen Tagen hier erschienen ist und in dem es darum geht, was dagegen spricht, dass der FPÖ-Chef nach der kommenden Nationalratswahl Bundeskanzler wird, gab es unter anderem diese Reaktion: Unsinn, der Mann wird nach der Macht greifen, sobald sich die Möglichkeit dafür bietet; nicht zuletzt auch aufgrund der vielen Posten, die auf ihn und seine Parteifreunde warten. Behauptung: So wenig, wie er in diesem Jahr einfach so gemütlich über den Ballhausplatz ins Kanzleramt spazieren wird, so wenig wird er dieser Verlockung erliegen.
Man sollte Hebert Kickl nicht über-, aber auch nicht unterschätzen. Beides nützt ihm nur. Schon heute entsteht da und dort der Eindruck, Kickl repräsentiere eine absolute Mehrheit der Wählerschaft. Was der Absicht entspricht, die er mit seiner Ansage verfolgt, Volkskanzler werden zu wollen: Es geht hier darum, der Wählerschaft vorzugaukeln, dass er für den Wählerwillen stehe.
In Wirklichkeit ist es so: Kickl und die FPÖ haben gut ein Drittel auf ihrer Seite. Und das ist schon relativ. Einige sind ausschließlich für sie, weil sie gegen andere sind. Wie auch immer: Dass der Anteil von einem Drittel gefühlt größer ist, hat unter anderem mit dem Dilemma und der Unbeholfenheit der ÖVP zu tun: Sie steht mehr als die SPÖ in einem direkten Wettbewerb um Wähler, weil sie mit ihnen unter Sebastian Kurz groß geworden ist. Anstatt diese nun jedoch mit einem selbstbewussten (besseren) Angebot zu umwerben, neigt sie dazu, etwa in Migrations-, Klima- und Europafragen weiter Freiheitliche zu kopieren. Unterm Strich entstehen so Mehrheitspositionen.
Im Zentrum bleibt das Ziel von Kickl, Volkskanzler zu werden. Das sagt er nicht so, er meint es auch so. Daher wird er eher erst dann im Kanzleramt einziehen, wenn er seine Vorstellungen zu fast 100 Prozent durchsetzen kann. Mit einem Koalitionspartner, der rund 20 Prozent hat, geht das nicht.
Zweitens: Kickl wird unterschätzt, wenn man glaubt, er wolle Eitelkeiten und finanzielle Begehrlichkeiten von ihm und seinen Parteifreunden befriedigen, die auf ordentlich bezahlte Posten spitzen. These: Er ist nicht so einfach gestrickt.
Er zieht sein Ding mit maximaler Konsequenz durch. „Gegen das System“, lautet sein Programm: „Ich gehöre nicht dazu, sondern bekämpfe es.“ Das ist Teil seines Erfolgs in Zeiten, in denen sehr viele Wähler Regierung, Parlament und Parteien ablehnend bis distanziert gegenüberstehen. Und es macht ihn demokratiepolitisch nur noch gefährlicher.
Um zu verdeutlichen, wie konsequent er das betreibt, verweist der Meinungsforscher Peter Hajek, der auch ein hervorragender Politikanalyst ist, gerne auf diese Geschichte: Als Ex-SPÖ-Chefin Pamela Rendi-Wagner im vergangenen Sommer aus dem Nationalrat verabschiedet wurde, gab es ebendort Standing Ovations. Einzig Kickl blieb mit seinen Abgeordneten sitzen. Empörte Hinweise darauf dürften ihm gefallen haben: Sie bestätigten seine Erzählung, wonach er eben nicht dazugehöre.
Herbert Kickl wird wohl auch kaum jemals den Opernball besuchen. Auf Bildern von den großen Empfängen, die René Benko gab, sind viele Regierungs- und Oppositionsvertreter zu sehen. Ihn jedoch sucht man vergeblich. Er weiß schon warum: Die Leute sollen glauben, dass er nicht dazugehört.
Die Zeit nützt er indes anders. Vor allem dafür, auf Macht hinzuarbeiten, um letzten Endes Erwartungen seiner Wähler gerecht zu werden bzw. ihnen Enttäuschungen wie bei freiheitlichen Regierungsbeteiligungen ab 2000 und 2017 zu ersparen.
Bezeichnend: Herbert Kickl steht – obwohl jahrelang Mitarbeiter von Jörg Haider und Strache – nicht für Korruptionsaffären. Aber für die BVT-Affäre, bei der der Mann gezeigt hat, wie er Macht missbraucht. Beziehungsweise eine Ahnung geliefert hat, was er tut, wenn er (vielleicht) einmal Volkskanzler ist und sich den Staat zurechtzurichten versucht.