ANALYSE. Die FPÖ zieht mit Kickl auf und davon. Die Zustände von ÖVP, aber auch SPÖ erklären einiges.
„Genug ist genug“, sagte der damalige ÖVP-Chef und Kanzler Sebastian Kurz im Mai 2019, als er nach Veröffentlichung des Ibiza-Videos die Koalition mit der FPÖ auf- und de facto Neuwahlen ankündigte. Ehe er zwei Tage später den Bundespräsidenten bat, Herbert Kickl als Innenminister zu entlassen, was Alexander Van der Bellen dann auch tat.
Was muss es vor diesem Hintergrund für eine Genugtuung sein für Kickl, die FPÖ jetzt auf Platz eins geführt zu haben. Zumal er das nicht nur all den Krisen und der Tatsache zu verdanken hat, diesbezüglich wirkungsvoll Stimmung gemacht zu haben. Es hat schon auch damit zu tun, dass Kurz vor fünf Jahren den Freiheitlichen eine Viertelmillion Wähler abnahm, dann aber über sich selbst stolperte; dass Türkise in weiterer Folge selbst in ein tiefes Lock stürzten und nun ganze elf Prozentpunkte verloren und hinter die FPÖ zurückfielen.
Er hat im Übrigen damit zu tun, dass sich die ÖVP nach Kurz nicht umfassend in dem Sinne erneuerte, dass sie inhaltlich wie personell glaubwürdig zur Mitte rückte, sondern in wesentlichen Fragen rechtspopulistisch blieb. Damit hat sie dazu beigetragen, dass Themen gestärkt wurden, die vielleicht Kurz wirkungsvoll im Sinne von Wahlerfolgen behandeln konnte, aber nicht Nehammer und schon gar nicht Innenminister Gerhard Karner oder Integrationsministerin Susanne Raab. Dass das unterm Strich alles eher nur Kickl dient, weil er da der Schmied ist, wie man so sagt. Wichtiger: Dass er da immer noch weiter, ja bis zum Unsäglichen geht und zum Beispiel von „Remigration“ spricht, als wäre von Selbstverständlichem die Rede.
Das Problem ist, dass es eigentlich nie eine Zeit für eine Erneuerung gibt. Schon gar nicht für eine Partei wie die ÖVP, die immer regiert. Bei ihr taucht allenfalls einmal ein vermeintliches Talent wie Kurz auf, das sich bald jedoch als große Enttäuschung entpuppt.
Der Bedarf, sich zu erneuern, wäre bei der ÖVP noch nie so groß gewesen, wie er heute ist: Kickl ist nicht trotz, sondern wegen seiner Ansage erfolgreich, „Volkskanzler“ zu werden, nach oben zu treten und „Volksverräter“ zu verfolgen, also den demokratischen Rechtsstaat zu zertrümmern. Das hängt schon auch mit Wahrnehmungen zum Machtverständnis von Kurz und Co. zusammen, die durch diverse Chats entstanden sind; oder durch Angriffe eines Andreas Hanger auf die Wirtschafts- und Korruptionsstaatsanwaltschaft. Das hängt im Übrigen damit zusammen, dass sich derlei gerade in einer Zeit voller Krisen zugetragen hat, in denen Kickl so den Eindruck verstärken konnte, dass Regierende nur auf sich schauen würden und dass ihnen die Leute vollkommen egal seien
Da ist es verhängnisvoll, dass die Nehammer-ÖVP keinen glaubwürdigen Strich zog unter das, was war, sondern sich vielmehr bemühte, Geschichten, die unangenehm sein könnten für sie und ihresgleichen, zu verhindern. Stichwort Zitierverbot aus Ermittlungsakten.
Man kann es auch so formulieren: Kickl ist stark, weil die Volkspartei derart versagt. Und weil die SPÖ so auslässt. Steirische Bezirke, die einst tiefrot waren, sind heute klar blau – mit gut und gerne 35 Prozent Stimmenanteil für die FPÖ. Obwohl Andreas Babler versucht hat, Leute, die zu kämpfen haben, also insbesondere auch Arbeiterinnen und Arbeiter, gezielt anzusprechen. Da ist etwas schiefgegangen in der Vermittlung.
Es ist unter anderem auch zu offensichtlich geworden, dass die Sozialdemokratie nicht hinter ihrem Vorsitzenden steht. Auch aus der Steiermark hieß es, er solle zur Mitte rücken. Distanziert bis ablehnend äußerten sich darüber hinaus so viele, von Doris Bures (distanziert) bis Hans Peter Doskozil (ablehnend).
Die SPÖ ist an einem Punkt angekommen, an dem es schwer ist, eine Perspektive auszumachen. Natürlich: Im Burgenland kann sie sich auf Landesebene durch einen burgenländischen Kurs behaupten, der von Doskozil bestimmt wird; das funktioniert aber nur hier. In Wien wiederum versteht es die Partei einigermaßen, den Umständen ebendort gerecht werden. Aber wie könnte das bundesweit funktionieren?
Da hat’s etwas Grundsätzliches mit Parteien links der Mitte: SPÖ, Grüne und KPÖ haben bei der Nationalratswahl zusammen gerade einmal 31,8 Prozent erreicht. So wenig wie noch nie. Von 1945 bis Anfang der 2010er Jahre kamen sie auf 40 und mehr Prozent, zwischendurch sogar auf eine absolute Mehrheit.