ANALYSE. Wenn sich Kickl in der Mitte sieht, dann darf Nehammer das natürlich auch. Glaubwürdig ist es halt nicht. Und überhaupt.
Die „Kronen Zeitung“ kann ganz schön unberechenbar sein. Vor allem in den Bundesländern, also weit weg von der Zentrale: Nehammer wolle Sehnsucht nach der Mitte stillen, berichtet die Oberösterreich-Ausgabe des Blatters von einer Wahlkampftour des ÖVP-Obmannes und Bundeskanzlers. Was noch ganz nach seinem Geschmack sein dürfte. Alles weitere jedoch weniger bis gar nicht: Seine Themen würden klingen, „als hätte sie die FPÖ gesetzt“.
Der Platz in der Mitte bleibe frei, heißt es dann in einem Kommentar dazu: Zwischen Freiheitlichen und Sozialdemokraten würde zwar eine „sogenannte politische Mitte“ bleiben, wenn sich Nehammer aber mit Themen darum bemühe, „die von der FPÖ abgeschrieben wirken, bedeutet das nur, dass die ÖVP nach rechts rückt – und der echte Platz in der Mitte für andere frei bleibt“.
Dem ist grundsätzlich nichts hinzuzufügen. Außer, dass das mit der „Mitte“ ein Schmäh ist: Herbert Kickl sieht sich ebenfalls dort. Freiheitliche seien die Vertreter der Mitte, des Hausverstandes und der Normalität, behauptete er beispielsweise in seiner Rede zum Neujahrstreffen der Partei.
Normalität, Hausverstand, Mitte: Das sind Begriffe, mit denen auch Karl Nehammer arbeitet. In ihrem Sinne könnte man sagen, es gehe darum, etwas für normal zu erklären, was nicht normal, jedenfalls nicht Mitte ist. Kickl kann derlei besser: Im Unterschied zu Nehammer kann er in einem Satz sagen, was er unter Leitkultur versteht: Leitkultur ist, wie wir sind, lautet seine Definition und das darf jeder Anhänger so verstehen wie er will, um festzustellen, dass es voll okay ist, wie er ist.
Die Oberösterreich-Redaktion der „Krone“ hat den ÖVP-Chef durchschaut: Er bemüht sich mit seinen Leuten, FPÖ-Themen zu behandeln, spricht landauf, landab von einer restriktiven Asylpolitik. Versucht seine Integrationsministerin Susanne Raab in einer irreführenden Art und Weise zu vermitteln, dass die Arbeitslosenquote unter Geflüchteten aus der Ukraine drei Mal niedriger sei als unter Syrerinnen (in Wirklichkeit sind viele nicht erwerbstätig und auch nicht beim AMS vorgemerkt, weil sie sich in der Grundversorgung befinden).
"45% der nach Österreich geflüchteten Syrerinnen sind arbeitslos, während es bei den vertriebenen Ukrainerinnen nur 15% sind."
Ein Lehrbeispiel, wie Susanne #Raab abseits von Fakten Politik macht. #asylfakt80
1/10https://t.co/22FSrwYEzv— Lukas Gahleitner-Gertz (@LukasGahleitner) July 8, 2024
Ist sich Raab nicht zu dumm, die Präsentation des jüngsten Integrationsberichts dafür zu verwenden, türkise Wahlkampfslogans zu verbreiten: „Was wir nicht brauchen, ist illegale Migration in unser Sozialsystem.“ Oder redet Europaministerin Karoline Edtstadler (ÖVP) schon einmal von einem „weiteren Diktat aus Brüssel“ (im Zusammenhang mit der Renaturierung). Oder verstolpert sich die Volkspartei zur Formulierung „Tradition statt Multikulti“. Was einer Mitte-Partei nie im Leben passieren würde.
Natürlich ist diese ÖVP nicht Mitte, sondern gezielt rechts davon. Das liegt gewissermaßen in der Natur der Sache: Sie hat seit der letzten Nationalratswahl weder gesellschafts-, noch wirtschafts-, noch budget-, noch integrations- noch europapolitisch etwa einen Neuanfang gewagt, um Wählerinnen und Wähler einer zerfallenden Mitte zu umwerben. Daher ist sie gezwungen, diejenigen bei Laune zu halten, die ihr Sebastian Kurz beschert hat. Das sind Tausende, die den Freiheitlichen zugeneigt sind.
Das ist das eine. Das andere: Indem sie dabei bleibt, bringt sie sich de facto auch um Optionen nach der Nationalratswahl: Nehammer mag eine Zusammenarbeit mit Kickl ausschließen. Mit seinem Kurs und mit den Wählerinnen und Wählern, die er damit anzusprechen versucht, kann er aber nur mit den Freiheitlichen koalieren. Das geht sich mit Sozialdemokraten, Grünen und Pinken hinten und vorne nicht aus.